Der grosse, offenbare Tag

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Ich bereute beinahe, es gesagt zu haben, als der Priester mich mit einer Strenge, die ich noch nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte, betrachtete. Er schien mich zu prüfen, jetzt, da ich's am wenigsten erwartet hatte, und es war auch, als hätte er zuvor schon etwas anderes erwogen, als er mit einem mal sehr knapp und beinahe befehlend sagte: Nun, so seien Sie dankbar, daß Ihnen noch eine Weile Zeit dazu gewährt ist!

Damit schieden wir voneinander, und ich merkte, daß er es sich beim Weggehen förmlich zur Pflicht machte, doch noch ein wenig zu lächeln, um nicht gar zu abweisend zu erscheinen. Indessen führten die Umstände uns an diesem Tage noch ein drittes Mal zusammen, das den Ausschlag gab und mich neben vielem anderem über das Leben des Priesters und seiner Gemeinde und seine Erlebnisse in den Jahren der Heimsuchung auch erfahren ließ, was mit der Kirche von Tuulos geschehen war. Einer der lutherischen Pfarrer der Stadtgemeinde fand sich hinter dem Stacheldraht ein, um seinem Amtsbruder anderen Glaubens einen Besuch abzustatten, und da man bei der Lagerleitung wohl ein Gespräch voraussah, das sich nicht mit einem kärglichen Wortschatz bestreiten ließ, wurde ich wieder einmal als Dolmetscher gerufen.

Der Besucher, ein rosiger Mann mit einer natürlichen Würde, die von seinem schwarzen Rock noch unterstrichen wurde, hatte zahllose Fragen an den Priester bereit, darunter Fragen, welche die naive Vorstellung verrieten, daß ein Flüchtling eben auf alles zu antworten und kein Anrecht darauf habe, irgendetwas aus seinem Leben für sich behalten zu dürfen. Dabei erfuhr ich, [83] daß Vater Tichon 1890 geboren war, als Sohn eines Diakons, daß er das geistliche Seminar in St. Petersburg und Nowgorod besucht hatte, daß er im Jahre 1918, mitten in den Schrecken des Bürgerkrieges, von dem später ermordeten Metropoliten Benjamin, der soviel Gefallen an ihm gefunden, daß er ihn zu einem seiner Handsekretäre gemacht hatte, schon in aller Heimlichkeit zum Priester geweiht worden war und der Verhaftung in Petrograd nur durch den Auszug in die heiligen Wälder und Einöden seiner ostkarelischen Heimat entgangen war; daß er in kinderloser Ehe gelebt und seine Frau durch Krankheit in Finnland verloren hatte, daß er aber noch keine geistliche Obrigkeit oder eine Gelegenheit gehabt habe, die Mönchsgelübde abzulegen...

Er hat mein halbes Leben mitgenommen, sagte Vater Tichon lächelnd, als wir den Besucher verabschiedet, zur Pforte geleitet und ihm nachgeblickt hatten. - Aber das meiste, sagte er, ist ein Schlangenhemd. Die Seele häutet sich in immer neuen Erfahrungen, Ängsten, Freuden, Zufriedenheiten und Sorgen, und schließlich...

Er stand in seinen Stiefeln breitbeinig an der Pforte und sprach, unausgesetzt zu Boden blickend, nachdenklich vor sich hin. Sein knochiges Gesicht konnte zu dem eines Bauern passen, der prüfend betrachtete, wie die Saat aufgegangen sei. Aber es gab feine Merkmale darin, daß er viel gelernt hatte - Handwerk oder Kunst? Wer wollte darüber entscheiden! Um die Schläfen, den Mund und die Nase waren Erfahrungen eingegraben, von denen er nichts erzählt hatte.

Ich bemerkte jetzt erst, wie wortkarge Lippen er hatte, und daß alles Lebhafte an ihm, das Feuer, das mitunter - namentlich in Augenblicken der Strenge - in seinen Augen glühte, die Raschheit der Bewegungen, die Schnelligkeit, mit der er einem ins Wort fallen konnte, von einem Eifer in ihm zeugten, der ihm nicht angeboren war und ihn irgendwann einmal überfallen haben mochte. Ja, ich wollte meinen, es gab irgend ein Erlebnis, eine geistige Erfahrung, die diesen Mann erst einmal richtig erweckt hatte, mochte er da auch schon längst Priester gewesen sein.

Schließlich? fragte ich, als er immer noch nicht zu Ende gesprochen hatte.

Schließlich, junger Freund, sagte er mit einem Male unerwartet feurig und blickte mich mit seinen scharfen, grauen Augen voll 

[84] an, schließlich brennen alle diese Kleider in dem Feuer der Gewißheit auf, daß wir Erlöste sind. Schulidge, aber Entsühnte; Geängstigte, aber Getröstete; Erfreute, aber mit unvergänglichen Freuden; Zufriedene aber Gesättigte im Vater; Sorgende, für die aber gesorgt wird. "Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst!"

Mit diesen Worten der Offenbarung nahm er mich beim Arm und führte mich weg vom Tor, den Häusern entgegen.

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Barmherziger! Meinte er mit einem Male, als hätte der vertraute Anblick des Lager-Geviertes ihn an etwas gemahnt, was predige ich Ihnen! Aber so ist es, so ist es, halten Sie sich daran, ich weiß es. Soviel weiß ich kleiner, unwissender Dorfpriester doch. – Aber noch nicht lange, fügte er, stehenbleibend, hinzu, noch nicht lange. Nicht zu spät, nein; aber wie hätte ich leben sollen, wenn ich es auch heute nicht wüßte. Sie alle, alle – und er machte eine andeutende Bewegung zum Haus der Flüchtlinge hin.

 Ich habe einen Augenblick geglaubt, Sie wären ein zweiter Pitirim, sagte Vater Tichon einige Tage später. Ich meinte, ich müßte Sie warnen, und ich riet Ihnen, dankbar zu sein für die Zeit, die Ihnen noch gewährt ist, selig zu werden,

Wer aber war der erste Pitirim, fragte ich, wenn schon ich der zweite gewesen sein sollte?

Sie sind es nicht! Sagte der Priester mit entwaffnender Väterlichkeit. Seine Sie froh, ja – aber nein, er ist selig geworden, meine ich, nur hat Gott ihm keine Zeit mehr gegeben, oder gerade soviel, wie nötig war, was wissen wir...! Ihm schienen viele Erinnerungen zu kommen, die er noch eine Weil mit der ganz nüchtern klingenden Erklärung zurückhielt, der allererste Pitirim sei der Heilige, dessen Asche in Pambow aufbewahrt werde, und der zweite Pitirim sei ein junger Mann gewesen, Arbeiter bei einem Sägewerk in Tuulos, ursprünglich ein Kind seiner Gemeinde, das sich dann von der losgesagt habe – und nun in der Gemeinde der Seligen, schloß er so selbstverständlich, daß es einen Spötter zum Lachen hörte herausfordern müssen. 

Unser Gespräch fand am Vormittag eines Tages mit einer blassen Wintersonne statt, wie sie zu den Tagen um das Fest aller Märtyrer überall auf der Welt einmal aus den Wolken bricht. [85] Die Zeit unserer Absonderung von der übrigen Welt war vorüber, unsere Reinigung auf vielen Papieren vermerkt; bis daß Gewißheit wurde, wo wir unser künftiges Leben und die Arbeit, die ja irgendwo auf uns wartet mußte, finden würden, hatten wir die Erlaubnis, uns frei am Ort zu bewegen. In der Ereignislosigkeit des Lagerlebens war mir der Umgang mit dem Priester das einzige geworden, worin etwas geschah – und etwas für mich sehr Wichtiges geschah. Es war so wichtig, daß ich späterhin alle meine Pläne und Absichten fahren ließ und gleich dem Priester und den Seinen Waldarbeit in einer nördlicheren Provinz annahm.

Bei einem unserer gemeinsamen Wege auf den Höhnen rund um die Stadt, bei denen wir anstatt der in Reih und Glied gepflanzten neun jungen Kastanien auf dem Lagerhof endlich wieder Bäume über den Köpfen hatten – da gestand er mir, er hätte mich anfangs für einen zweiten Pitirim gehalten.

Das schrecke mich nicht mehr, nachdem er jenen Pitirim eben noch der Gesellschaft der Seligen zugezählt habe, erwiderte ich.

Sagen Sie das nicht, beharrte er ernst. Es ist ihm ergangen wie Simon Jona, ohne daß er alt geworden wäre. Ein anderer gürtete ihn und führte ihn, wohin er nicht wollte. Ich werde Ihnen seine Geschichte erzählen. Es zugleich unser aller Geschichte. Wir haben nicht Bedeutsameres erlebt, als was durch ihn und mit ihm geschah. Ich sage Ihnen: Wir konnten nur auf die Knie fallen und beten: "Du hast dich in Herrlichkeit erhoben, Herr... Du richtest gereicht. Wie der Rauch auseinandergetrieben wird, so treiben deine Feinde auseinander..." Und wenn Sie diese Geschichte gehört haben, fuhr er, wie zurückgeholt aus einer Verzückung, die ihn überkommen hatte, in anderem Ton fort, werden Sie begreifen, warum wir hier sind, ja, warum Ihre Karte von der Sie sprachen nicht mehr gestimmt hat. Ja, sagte er und sah sich nach einem Platz um, auf dem wir im Windschutz und an der wärmenden Sonne sitzen konnten, jeder von uns sollte sich jeden Tag einmal erzählen, diese Geschichte. Die Vergegenwärtigung wäre wie der gesegnete Umgang mit einer Reliquie...

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