Der grosse, offenbare Tag

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Hätten wir gewusst, was uns noch bevorstand - wir hätten den Kampf jetzt schon aufgegeben.

Um die dritte Stunde - das war gegen elf Uhr in der Nacht - schöpften wir ein wenig Hoffnung. Das Wasser war nicht mehr gestiegen, wir hatten alle Schollen bislang abwehren können. Freilich waren uns auch etliche Lanzen an dem häufig zwei Meter dicken Schild des Eises zersplittert. Was uns alle aber bis aufs Äußerste peinigte, war das ungeheuerliche Tosen, Splittern und Krachen in der Finsternis, das uns eine Angst einflößte, wie wir sie noch nie verspürt hatten. Alle waren wir Flößer und Holzhauer, wir waren mit der Stimme des Wassers und des Waldes vertraut. Hier aber hatte der Herr alle Gewalten aus seinem Bann entlassen und ihnen befohlen: Reißt! Rast! Schlagt! Zerrt! Schiebt! Brecht! Und wir sahen ja nur das Wenigste, wir hörten es und fühlten unser Entsetzen. Uns war, als hätten wir uns angemaßt, die gerechte Sündflut einzudämmen, die doch steigen musste, steigen, steigen, daß sie alles von diesem sündhaften Geschlecht ertränke. Wir bildeten uns ein, über Gottes Zorn siegen zu können. Die Laternen erloschen. Niemand von uns hatte Zeit, neues Öl zu holen und nachzufüllen. Und so fanden die schlimmsten Stunden uns schwächer gerüstet als vorher.

Horche ich nur recht tief in mich hinein, so höre ich heute noch das ungeheuerliche Toben jener Nacht. Es war so gewaltig, daß es uns nie mehr verlassen hat. Es hat sich mit jeder Faser von uns verbunden und hallt so in uns nach wie das Meeresrauschen in der Muschel. - Bis jetzt aber hatten wir immer noch auf festem Boden gestanden und aus sicherem Stand unsere Waffen gefällt. Das wurde anders, als keine Laternen mehr leuchteten. Wir sahen uns kaum, die wir fünfe oder sechse waren. Wir ahnten den Feind mehr, der sich da in der Finsternis, polternd und klirrend, wie in eisernen Rüstungen, heran wälzte, als daß wir ihn erblickt hätten, und so mag es wohl sein, daß wir unsere Waffen [97] nicht mehr so sicher gegen seine Weiche ansetzten wie vordem. Mit einem verzagenden Stöhnen räumte irgendeiner von uns den Kampfplatz, seine Kraft war zu Ende, er ergab sich, er trat auf die Eisscholle, die sich unter seinen Füßen heranschob, und suchte schon die nächste, die noch vor ihm sein mochte, um die abzuwehren - und gleich danach erschütterte ein hohles, dumpfes Dröhnen die Kirche - die Scholle war gegen ihren Sockel gerannt und war von dem aufgehalten worden, als Menschenmacht und - kraft versagt hatten.

Dies war der erste Einbruch des Feindes in unsere Linien. Er blieb nicht der einzige. Alle standen wir bald auf wanderndem Grund: nicht mehr auf der Erde, sondern auf Schollen, die sich unter unseren Füßen bewegten, von der nachpressenden Kraft anderer hinter ihnen gezwungen, splitternd in den Kanten, berstend an den Enden, pressend und selber zusammen gepresst - bis unter dem Aufschrei eines der Unsern, der halb hintenüber fiel und halb sich wie vor dem Rachen eines Untieres selber aus dem Wege zu werfen versuchte, die ungeheuerlichen Kräfte eine von den Schollen sich aufsteilen und dann, wie den Kiefer eines Rachens, über den Füßen bis hinauf zu den Knien des unglücklichen Daliegenden niederfallen ließen. Wir sahen das nur schemenhaft, wir ahnten auch diese Gefahr mehr, als daß wir sie erkannt hätten. Uns wollten nur schier die Adern platzen vor Angst und vor Anstrengung, diesen Eisrachen daran zu hindern, daß er sein Opfer gänzlich verschlang. Und während wir unsere Stangen einstemmten und halb wimmernd, halb stöhnend diese Scholle zu heben und zurückzuschieben versuchten, schrie der Daliegende so, als hätten wir die Eisen in seinen Leib eingestemmt. Aber das war natürlich nur Angst, laute Angst vor dem Eisblock, den er im Daliegen wie einen Panzer über sich hinwegrollen sah - bis ihn das lautlose Entsetzen packte, aber da hatten wir ihn auch schon bei den Schultern gefasst und in Sicherheit gezogen.

Es soll so gegen drei Uhr morgens gewesen sein, als nochmals etliche von den Frauen kamen, um uns eine Stärkung zu bringen. Sie füllten auch die Laternen auf. Das ganze Dorf kam nun auf die Beine, alle, die um unsere Kirche bangten. Aber zu retten war sie doch nicht, das hatte der Herr anders beschlossen. Nur glaubten wir noch fest daran, daß wir es könnten. Denn unsere Augen sahen nicht, was eben noch von der Dunkelheit und der Entfernung verborgen nahte: blank wie Stahl, in einem einzigen [98] Stück von zahllosen Frostnächten gehärtet, gezahnt und scharf wie die beste Säge, die wir je an einen Baum angesetzt, von der Gewalt des neuerlich steigenden Wassers in der Länge des ganzen Flussbettes geführt - eine einzige große Scholle, die unverharscht geblieben war, die furchtbarste Waffe dieses untergehenden Winters, groß, daß drei Kirchen von der Größe der unseren Platz darauf hatten. Sie kam. Wir sahen es nicht. Sie wartete den Morgen ab, das erste fahle Grau, das mit einem Male um uns war und in dem wir selber die letzten Finsternisse der Nacht zu sein schienen. Wir standen da schon im Wasser. Wir hatten unseren Standplatz vorverlegt, um den Feind vor der Feste des Tempels leichter abdrängen zu können, weil uns dort draußen die Strömung williger beistand. Sie wartete. Erst mussten noch mehr von den Unseren gekommen sein, oben am Abhang stehen, klagen, Herr, erbarme dich! stöhnen bei allem, was geschah. Die Sonne sollte erst aufgehen als ein glutender Schimmer am östlichen Himmel und unser Pfingsten bezeugen. Dann erst kam sie, und mit ihr zusammen ein Schwall von Hochwasser, wie wir ihn während der ganzen Nacht nicht so sprunghaft erlebt hatten. Wahrscheinlich war im Oberlauf eine stauende Barriere geborsten. Und mit der Gewalt dieses Wasserschwalles hob sie ihren gepanzerten Rücken und stieg zu uns hinauf... Wir sahen es nicht. Wir konnten uns die Augen reiben, in denen das Salz unseres Schweißes brannte - es waren die Frauen, die soviel höher standen, die ihr Nahen als erste gewahrten. Sie schrien, sie bekreuzten sich eilends, etliche machten Anstalten, davonzulaufen vor Entsetzen... Wir blickten hinauf zu ihnen, wir verstanden sie anfangs nicht, dann aber... Nein, wir selber rannten davon, den Abhang hinauf, weg, nur weg - gegen diesen Feind waren unsere Stangen machtlos, ebenso gut hätte man versuchen können, den apokalyptischen Reitern in die Zügel zu fallen. 

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