Die Walter-Nigg-Bibliothek in Fribourg
verschüttete Quellen rauschen, die auf Freilegung warteten.
Ja, hinter dieser allzu erbaulichen Literatur war lauteres Gold verborgen
und zwar Gold, wie es die Christenheit nicht viel aufzuweisen hatte."
Walter Nigg
aus: Ein Wörtlein über meine Bücher und weitere autobiographische Texte,
Nur einen Steinwurf vom Institut für Ökumenische Studien der Universität Fribourg entfernt befand sich für viele Jahre die Walter-Nigg-Bibliothek mit einer reichhaltigen Sammlung von Werken zu den Heiligen, den Orden und zur Mystik, zur ostkirchlichen Theologie sowie zur Geschichte des Protestantismus.Inzwischen wurde die Bibliothek in die Räume der Universität überführt und ist im Büro 6115 des Gebäudes "Miséricorde" zu finden. Dennoch bleibt die Erinnerung an den schönen ersten Aufstellungsort, der in seiner Gestaltung der Bibliothek so angemessen war:
Die Bibliothek birgt die bedeutendste deutschsprachige Sammlung von Quellen zur Erforschung von Leben und Werk der Heiligen, die im 20. Jahrhundert zusammengetragen wurde und die zur Grundlage für Walter Niggs Lebenswerk wurde.
Das kleine Haus an der Route du Jura auf dem Gelände des Justinuswerkes wurde lange vom Institut für Ökumenische Studien eigens angemietet, um der Privatbibliothek Walter Niggs einen angemessenen Rahmen zu geben. Es liegt von der Straße etwas zurückgesetzt in einem Garten mit altem Baumbestand und einer Grünfläche, auf der im Frühjahr Veilchen und Himmelsschlüssel leuchten. Zwischen der nüchternen Umgebung von Mehrfamilienhäusern und der modernen Betonarchitektur der Universitätsgebäude wirkt es wie ein Kleinod, das direkt aus den Höhenlagen des Wallis in die Universitätsstadt versetzt worden ist.
Im kleinen Flur hinter der Eingangstür wurde der Besucher von einer Ikone begrüßt. Sie wurde in Taizé reproduziert und heißt „Der Freund". Ein koptischer Mönch, Abt Menas vom Kloster de Baouit, schaut den Besucher aus weit geöffneten Augen an. Die rechte Hand hat er zum Segen erhoben. Zu seiner Linken steht Christus. In der einen Hand hält er die Bibel. Den rechten Arm legt er dem segnenden Mönch auf die Schulter. Es ist der Segen Christi, den der Mönch weitergibt. „Was hast du aber, das du nicht empfangen hast? Hast du es aber doch empfangen, was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen hättest?" (1. Kor 4.7) Walter Nigg hat sein Lebenswerk unter dieses Motto gestellt und mit dem Pauluszitat seinen Rechenschaftsbericht „Ein Wörtlein zu meinen Büchern" abgeschlossen. Wie der Mönch auf der Ikone, so hatte Walter Nigg die Hand Gottes auf seiner Schulter gespürt. Er wollte begreifen, was ihn ergriffen hatte.
Durch die Ikone „Der Freund" geht ein Riss, der auch die Christusdarstellung betrifft. Er hat seine natürliche Ursache im Alter des Bildes, bringt aber zugleich die Wahrheit zum Ausdruck, dass jede Gottesfreundschaft unter den Bedingungen der Geschichte immer Brüchen unterliegt. Links neben der Ikone befindet sich ein Regal mit Niggs Werken. Sie legen Zeugnis ab von seiner Zwiesprache mit den Heiligen und Mystikern. Über dem Regal hing ein Portrait Walter Niggs zusammen mit seiner Frau Gertrud. Dem Hagiographen gegenüber begrüßte Papst Benedikt XVI. den Besucher mit einem freundlichen Lächeln. Im Mai 1971 standen Walter Nigg[2] und Joseph Ratzinger[3] Seite an Seite auf dem Bergäcker-Friedhof in Freiburg und erwiesen der Hagiographin Ida Friederike Görres die letzte Ehre.
An dem Bild Benedikts XVI. vorbeigehend, gelangte der Besucher vor die Tür des Kaminzimmers. Am oberen Türrahmen leuchten in goldenen Lettern die Buchstaben CMB - Christus Mansionem Benedicat / Caspar, Melchior, Balthasar - mit der aktuellen Jahreszahl. Walter Nigg wurde an einem Dreikönigstag[4] geboren. Unter dem Segenszeichen der Heiligen Drei Könige hindurchgehend, betrat der Besucher den Raum. In der Gegenwart einer Marienskulptur und verschiedener Ikonen, darunter eine Ikone der Heiligen Katharina von Alexandrien, stehen hier zwischen den mystischen und hagiographischen Sammlungen die Werke von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, die Bücher Sören Kierkegaards und Dostojewskijs mit den Anstreichungen des sechzehnjährigen Walter Nigg. Im unteren Bibliotheksraum hing auch eine armenische Ikone der Taufe Christi, die das Verbindende aller Heiligen in der Taufe zum Ausdruck bringt. Sie ist ein Geschenk des armenischen Pfarrers der Schweiz, Dr. Abel Manukian.
Im oberen Stockwerk stand ein Gästezimmer für Gastdozenten des Instituts für Ökumenische Studien zur Verfügung. Ein weiterer Raum war ganz mit Werken der Privatbibliothek von Walter Nigg gefüllt: insbesondere befand sich hier die Literatur zur Geschichte und Theologie der Reformation, aber auch eine große Abteilung mit christlicher Literatur sowie Werke der katholischen Theologie sowie zahlreiche Studien zur Religionsgeschichte und Religionsphilosophie.
„Eine Bibliothek ist immer so etwas wie der Spiegel seines Besitzers. Sie erschliesst die Welt des Geistes und die geistliche Welt, in der Walter Nigg zuhause war und die er durch seine zahlreichen Schriften eindrucksvoll vermitteln konnte."[5] Diesen Spiegel der geistigen und spirituellen Existenz, von dem Barbara Hallensleben in ihrem Bericht über das Schicksal der Nigg-Bibliothek spricht, gilt es für die Forschung zu nutzen. Der geistige Raum, in dem sich Nigg bewegte, war seine Muttersprache. Gerade an einer zweisprachigen Universität wie Fribourg fällt dem Besucher der Bibliothek die Abwesenheit jeder Quelle in französischer, englischer, spanischer oder russischer Sprache auf. Selbst lateinische, griechische oder hebräische Werke befinden sich mit Ausnahme einiger Bibelausgaben nicht in der Nigg-Bibliothek. Nigg lebte in der deutschen Sprache. Sie war sein Medium der Annäherung an das Geheimnis der Heiligen und Mystiker. Die meisten Bücher tragen einen Besitzervermerk und das Datum des Erwerbs. Sie sind von Nigg mit Bleistift durchgearbeitet worden, so dass sich durch einen Vergleich seines Werkes mit den Büchern aus seiner Bibliothek ein genaueres Profil des Arbeitsprozesses erstellen lässt.
Nigg verwendet konsequent drei Stufen der Hervorhebung des Gelesenen: Die einfache Unterstreichung, die Unterstreichung mit einem zusätzlichen Strich am Seitenrand und als höchste Stufe der Bedeutsamkeit die zusätzliche Markierung des Seitenstriches durch ein Kreuz. Zentrale Passagen sind im hinteren Innendeckel des Buches oder auf eingelegten Zetteln noch einmal mit Stichwort und Seitenzahl notiert. Diesen Brauch wird Nigg ein ganzes Gelehrtenleben lang pflegen.
Zahlreiche Widmungsexemplare ermöglichen die Rekonstruktion des geistigen Austausches, in dem Nigg stand. Nigg hatte die Gewohnheit, an ihn gerichtete Briefe und Zeitungsausschnitte aus der Neuen Zürcher Zeitung in seinen Büchern abzulegen. Auch sie zeigen die Nigg-Bibliothek als Lebens- und Arbeitsraum des Hagiographen. Da Nigg bei Autoren, denen er sich stark verpflichtet wusste, über Jahrzehnte die neueste Literatur erwarb, gibt die Höhe des jeweiligen Bestandes einen ersten Eindruck vom Gewicht, das Nigg einem Autor beimaß. Umgekehrt signalisiert der Abbruch einer Sammlung auch den Abbruch einer Beziehung, wie im Falle von Karl Barth. Die Briefe und Zeitungsausschnitte, die Widmungen und die Anstreichungen in den Büchern bilden somit eine wichtige Quelle für die Erschließung der Anregungen, die Nigg aufgenommen hat.
Weiterlesen über
[2] Vgl. Walter Nigg. Ansprache. In: Ida Friederike Görres/Walter Nigg/Joseph Ratzinger. Aufbruch - aber keine Erlösung. Brief über die Kirche und anderes. Herder Verlag. Freiburg 1971. S. 153-158.
[3] Benedikt XVI. zeigt in seinem Jesus-Buch die Möglichkeiten und Grenzen der historisch-kritischen Methode auf und umschreibt seine Arbeit mit einer Metapher, in der auch Nigg sein Selbstverständnis wiedergefunden hätte, "als Freilegung einer undeutlich gewordenen Ikone" (Joseph Ratzinger/ Benedikt XVI. Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Herder Verlag. Freiburg 2007. S. 11.).
[4] Vgl. dazu: Walter Nigg. Die drei Könige in mystischer Sicht. In: DU. Kulturelle Monatsschrift. 19. Jahrgang. Dezember 1959. S. 21-22.
[5] Barbara Hallensleben. Das Geschenk, das (fast) keiner wollte. In: Universitas Friburgensis. Octobre 2004. S. 10-11. S.10.