Alois Maria Haas (1983/1988)

Der Mystik-Forscher Alois Maria Haas würdigt Walter Niggs Lebenswerk an herausragender Stelle in der Neuen Zürcher Zeitung. Dabei stellt er die Notwendigkeit einer Überschreitung der Grenzen einer historisch-kritischen Wissenschaft aus dem spirituellen Anliegen Walter Niggs heraus: "Darin überschreitet Nigg auch die Grenze, die der wissenschaftlichen Biographie immer gesetzt bleibt: die der Objektivität; sein Plädoyer für die Heiligen und die Heiligkeit ist immer getragen von einer Ungeduld und Dringlichkeit, von einer Parteinahme, die nichts anderes als die 'Gottesnähe' - und keinerlei verselbständigte Tugendhaftigkeit - des Heiligen intendiert", schreibt Haas in seiner Grußadresse zum 80. Geburtstag von Walter Nigg. "In der Gewissheit, diese Gottesnähe des Menschen in tausend Gestalten als dessen innerstes Geheimnis aufweisen zu können, zeigt sich Nigg als ein wahrhafter Theologe, der auch dann, wenn er Frömmigkeitsgeschichte oder Geschichte der Spiritualität betreibt, von nichts anderem als von Gott spricht. Dafür ist ihm gerade heute eine zahlreiche Leserschaft dankbar."[1] Nigg richte seinen Blick auf die mystischen Schlüsselerlebnisse in der Biographie der Heiligen. Er wolle sie aus ihrer Erfahrung der Gottesnähe verstehen.

"Wenn Nigg als reformierter Christ sowohl seinen Glaubensgenossen wie den Katholiken die Kategorie der Heiligkeit einzuhämmern versuchte, so tat er das mit einem reichen historischen Wissen, das vom Frühchristentum bis in die Moderne reichte. Und im Grunde verliess er von allem Anfang an die Sicherungen einer auf Objektivität bedachten wissenschaftlichen Sprache und Sicht - wenn er auch immer wohldokumentiert die wissenschaftliche Forschung zur Kenntnis nahm - und überliess sich einem sprachlichen Duktus, der seiner eigentümlichen Tonart nach eigentlich nur als predigthaft bezeichnet werden kann."[2] Die Wiederentdeckung verdrängter mystischer Traditionen gehöre zu Niggs besonderem Verdienst. Sein Begriff von Heiligkeit sei folgerichtig allein personal geprägt. Mit ihm "drückt sich eine Option für das pneumatische, charismatische und enthusiastische Element in der Kirchengeschichte aus, die Nigg zeitlebens nie mehr verliess. Bis ins hohe Alter widmete er sein schriftstellerisches Vermögen der Aufgabe, Heiligkeit - und zwar personal in der unmittelbaren Begegnung eines Menschen mit Gott sichtbar werdende Heiligkeit - als das entscheidende Ferment der Kirchengeschichte darzustellen und zu erweisen."[3]

Aus dieser mystischen Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung resultiere letztlich auch Niggs erweiterter Heiligenbegriff. "Nigg mochte manchenorts anecken, wenn er die Dimension von 'Heiligkeit' in einem Masse dehnte, dass sie mit dem 'Ausserordentlichen', 'Ungewöhnlichen' zu verschmelzen schien. Beginnend mit den Aposteln, Priestern, Propheten, Reformatoren, Mystikern, Pilgern, Mönchen, Büssern und Lobpreisenden aller Art, fortschreitend über Künstler, Denker und Maler, Chiliasten und Ketzer, Narren, Sophiologen, Enthusiasten und Schwarmgeister bis hin zu Unheiligen - sie alle bevölkerten das Panoptikum seiner vielen Bücher, in denen unverbrüchlich galt: 'Man kann das Christentum nur ausserordentlich und ungewöhnlich leben.' Denn: 'Mit den Heiligen kommt man nie zu Ende', und es gibt mit Léon Bloy - den Nigg zu zitieren liebte - keine andere Traurigkeit als die, kein Heiliger zu sein."[4]

Daher ist Alois Maria Haas beizupflichten, wenn er Niggs Hagiographie als großen Entwurf einer Geschichte der Spiritualität bestimmt. Zutreffend ist auch beobachtet, dass Nigg für diese Frömmigkeitsgeschichte eine neue literarische Form mit einem eigenen unverkennbaren Stil geschaffen hat. Unverständlich bleibt jedoch, dass Haas an dieser Stelle kein Wort über Niggs zahllose Beiträge für die NZZ verliert, die sich immerhin über einen Zeitraum von 60 Jahren erstrecken. Erstaunlich ist weiterhin, dass trotz dieser Würdigung durch Haas das dreibändige Werk "Die Kirchenkritik der Mystiker - Prophetie aus Gotteserfahrung"[5] Walter Niggs Arbeiten nicht einmal durch eine Anmerkung in den Blick nimmt. Einer der Herausgeber, Mariano Delgado, forscht und lehrt als Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg in unmittelbarer Nachbarschaft der Walter-Nigg-Bibliothek mit ihrem reichen Bestand an mystischer Literatur.

 

 


[1] Alois Maria Haas. Grenzüberschreitende Theologie. Zum achtzigsten Geburtstag von Walter Nigg am 6. Januar. In: Neue Zürcher Zeitung vom 6. Januar 1983. S. 27. Vgl. auch: Alois Maria Haas. Gottleiden-Gottlieben. Zur volkssprachlichen Mystik im Mittelalter. Insel Verlag. Frankfurt 1989. S. 19.

[2] Alois Maria Haas. Zum Gedenken an Walter Nigg. In: Neue Zürcher Zeitung vom 30. März 1988. Haas folgte in seiner Würdigung den falschen Angaben zu Niggs Habilitation aus der Festschrift der 150-Jahr-Feier der Universität Zürich und datiert das Erscheinen von „Große Heilige" (1946) auf das Jahr 1948.

[3] Ibid.

[4] Ibid.

[5] Mariano Delgado/ Gotthard Fuchs (Hrsg.). Die Kirchenkritik der Mystiker. Prophetie aus Gotteserfahrung. Band III: Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. (=Studien zu christlichen Religions- und Kulturgeschichte. Band 4). Academic Press Fribourg/ W. Kohlhammer Verlag. Stuttgart 2005. Auch Fritz-Dieter Maaß hat in seinen Materialien zur Mystik-Diskussion nach dem Ersten Weltkrieg Nigg nicht im Blick: Fritz-Dieter Maaß. Mystik im Gespräch. Materialien zur Mystik-Diskussion in der katholischen und evangelischen Theologie Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg. Würzburg 1972. (=Studien zur Theologie des geistlichen Lebens. Band 4)