Hagiografie

Den Heiligen gehört die Zukunft. Walter Niggs Erbe

"...ich stehe in dieser Stunde ganz bestürzt da, weil ich weit und breit niemanden sehe, der auch nur von entfernt fähig wäre, ihre Tätigkeit auf diesem Gebiet weiterzuführen". So sprach Walter Nigg im Mai 1971 am Grab von Ida Friederike Görres, seiner katholischen Mitstreiterin in der Hagiographie. Müssen wir nun über Walter Nigg sagen: Wir stehen ganz bestürzt da, weil weit und breit niemand zu sehen ist, der auch nur entfernt fähig wäre, seine Tätigkeit auf dem Gebiet der Hagiographie fortzusetzen? Auf jeden Fall sollten wir uns die Frage stellen, wie wir mit dem Erbe Walter Niggs umgehen.

Das Erbe Walter Niggs - dieses Wort kann in einem ganz praktischen Sinne verstanden werden: Was wird aus seinen Veröffentlichungen? Wird es weiterhin Verlage geben, die seine Werke nachdrucken? Wird es Leser und Leserinnen geben, denen er zu Herzen spricht? Was wird aus seiner Privatbibliothek, deren größter Teil der Universität Fribourg anvertraut ist? All dies sind wichtige Aufgaben. Es gibt hinreichend Grund zu der Zuversicht, dass auf diesem Gebiet etwas weitergehen wird. Neuauflagen sind zugesagt. Wir freuen uns an der jüngst erschienenen italienischen Ausgabe der "Großen Heiligen", "Grandi Santi". Auf dieser Homepage kann auch Unveröffentlichtes dokumentiert werden und langfristig zugänglich bleiben. Das Haus, in dem früher die Walter-Nigg-Bibliothek untergebracht war, ist inzwischen durch das Werk des rumänischen Ikonenmalers Gabriel Solomon geziert und verkündigt von Tag zu Tag die Gemeinschaft der Heiligen allen, die vorübergehen und eintreten. Studierende, Dozierende und Gäste aus aller Welt lieben diese Oase des Friedens mitten in der Stadt mehr denn je, und Sie alle sind herzlich eingeladen, einmal zu kommen und zu schauen.

Walter Nigg hätte längst gesagt: Macht nicht so viel Aufhebens von meiner Person, kümmert Euch lieber um die "Wolke von Zeugen", mit denen ich mich in der Gottesfreundschaft so eng verbunden wusste, wie es im Hebräerbrief heißt: Da uns eine solche Wolke von Zeugen umgibt, wollen auch wir alle Last und die Fesseln der Sünde abwerfen. Lasst uns mit Ausdauer in dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist, und dabei auf Jesus blicken, den Urheber und Vollender des Glaubens; er hat angesichts der vor ihm liegenden Freude das Kreuz auf sich genommen, ohne auf die Schande zu achten, und sich zur Rechten von Gottes Thron gesetzt. Denkt an den, der von den Sündern solchen Widerstand gegen sich erduldet hat; dann werdet ihr nicht ermatten und den Mut nicht verlieren (Hebr 12,1-3).

"Die Heiligen kommen wieder" - Unter diesem Titel erschien 1973 im Herderverlag eine Lizenzausgabe mit "Leitbildern christlicher Existenz" aus vorangehenden Werken Walter Niggs. Den Heiligen gehört die Zukunft, weil sie uns zukunftsfähig machen. Jede Gestalt, mit der Walter Nigg sich beschäftigt hat, ist auf ihre Weise ihrem Stern gefolgt. Das entspricht durchaus der reformatorischen Sicht der Heiligen, wie sie 1530 in der "Confessio Augustana" niedergelegt wurde:

"Vom Heiligendienst wird von den Unseren also gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unsern Glauben stärken, so wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und wie ihnen durch Glauben geholfen ist; dazu dass man ein Beispiel nehme von ihren guten Werken, ein jeder nach seinem Beruf, gleichwie Kaiserliche Majestät seliglich und göttlich dem Exempel Davids folgen mag, Krieg wider den Türken zu führen; denn beide sind sie in königlichem Amt, welches Schutz und Schirm ihrer Untertanen fordert. Durch die Schrift aber mag man nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. „Denn es ist allein ein einiger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus, 1 Tim 2, welcher ist der einzige Heiland, der einzige Hohepriester, Gnadenstuhl und Fürsprecher vor Gott, Röm. 8. Und der hat allein zugesagt, dass er unser Gebet erhören wolle. Das ist auch der höchste Gottesdienst nach der Schrift, dass man denselben Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen suche und anrufe: „So jemand sündigt, haben wir einen Fürsprecher bei Gott, der gerecht ist, Jesum etc."

Richtig verstanden, beeinträchtigen die Heiligen nicht die Mittlerschaft und die Erlösung durch Jesus Christus allein. Das hebt Walter Nigg am Grab von Ida Friederike Görres hervor - und er spricht damit indirekt von seinem eigenen Verständnis der Hagiographie:

"Die große Leistung von Ida Friederike Görres war unbedingt ihr Durchbruch zur neuen Hagiographie, der noch immer viel zu wenig in seiner Bedeutung erkannt ist. Sie hat ihn geleistet in einer Stunde, als den Christen infolge der süßlichen Klischees das Bild der Heiligen aus den Augen zu entschwinden drohte, was nur eine geistige Verarmung und einen religiösen Substanzverlust zur Folge haben kann. Mit keiner Zeile hat sie sich an der abgeschmackten Entmythologisierung der Welt der Heiligen beteiligt, was ein schroff abzulehnendes Unternehmen ist, wohl aber hat Ida Görres mit der ihr eigenen Ehrlichkeit den Realismus in die Hagiographie eingeführt, wodurch diese eine neue Glaubwürdigkeit erreichte. Dabei ging es ihr nicht um eine Glorifizierung der Person, sondern stets um eine Verherrlichung Gottes, der uns diese nie genug zu liebenden Boten gesandt hat, was auch allein dem Sinn der Heiligen entspricht".1

Am Ende seiner Ansprache am Grab von Ida Friederike Görres nimmt Walter Nigg auf das Kirchenjahr Bezug und erinnert daran,

"dass morgen das Himmelfahrtsfest unseres Herrn ist. Mit Ihm vereinigt wissen wir die unvergesslich Verstorbene und schließen unsre Ausführungen mit einem Satz aus der Brevier-Antiphon: 'Heute wisst ihr, dass der Herr kommt, und morgen werdet ihr Seine Herrlichkeit schauen.' Amen".2

Die Brevier-Antiphon, die Nigg zitiert, stammt nicht vom Himmelfahrtsfest, sondern ist das Invitatorium zum 24. Dezember, dem Vortag von Weihnachten. Sie ist zu lesen als Höhepunkt einer langen Verheißungszeit, die mit einem ganz ähnlichen Gebetsruf begonnen hat: Am 1. Adventssonntag, zur ersten Vesper, also gleichsam als erstes Wort nicht nur der Adventszeit, sondern des gesamten Kirchenjahres, ruft die Gemeinde:

"Ecce, Dominus veniet, et omnes sancti eius cum eo,
et erit in die illa lux magna. Alleluia".
"Seht, der Herr wird kommen und alle seine Heiligen mit ihm.
An jenem Tag leuchtet ein helles Licht. Halleluja".

In dieser Perspektive ist alle Gefahr ausgeschlossen, dass die Heiligen Christus den Platz streitig machen. Denn hier erfolgt eine radikale Umkehrung der Perspektive: Christus selbst will sein Werk der Erlösung nicht vollenden ohne uns. Ihm vertrauen wir und trauen ihm zu: Wenn Du kommst, dann bist Du nicht allein, dann fällt das große Licht der Erlösung auf alle, die im Glauben mit Dir verbunden sind, ja auf die ganze Schöpfung, die in Dir und auf Dich hin erschaffen ist.

Die Heiligen, interpretiert als Leitbilder christlicher Existenz, bewahren die Perspektive der Vergangenheit, der Memoria: Was Christus an den Heiligen in der Geschichte gewirkt hat, das kann er auch heute an uns wirken. Wir sind fähig und berufen, uns ein Beispiel an den Heiligen zu nehmen und von ihnen zu lernen.

"Ecce, Dominus veniet, et omnes sancti eius cum eo ...". Dieses Gebet der Kirche lenkt unseren Blick wahrhaft auf die Zukunft im tiefsten Sinne des Wortes: Zukunft als das, was auf uns zukommt, was wir nicht aus eigener Kraft herbeiführen, was uns und der ganzen Schöpfung Hoffnung gibt. Die Zukunft stiftende Perspektive des Advents wird uns insbesondere durch das letzte Buch der Bibel eröffnet: die Offenbarung des Johannes. Mitten in den Visionen des Schreckens und des Untergangs ist dieses Buch der Heiligen Schrift ein Wort des Trösters, eine große Liebesgeschichte: Christus, das Lamm Gottes, kommt nicht, um seinen eigenen Triumph zu feiern, sondern um seine große Liebe zu dieser Schöpfung zur Vollendung zu führen. Was Johannes schaut, vollzieht sich im Himmel und auf Erden. Hier handeln Geschöpfe, Engel und Heilige, die dem Heilsplan Gottes dienen. Das Buch ist klar genug, um uns die Zuversicht zu geben: Die Geschichte ist nicht ein Spiel anonymer Mächte, sondern Gott selbst hält unser Geschick in seinen Händen, Gott selbst führt die Geschichte zum Guten. Zugleich ist die Offenbarung geheimnisvoll genug, um uns daran zu erinnern, dass das Handeln Gottes zu unserem Heil für uns unverfügbar bleibt.

Christus kommt mit all seinen Heiligen: Wir begegnen ihm in der Gemeinschaft der Heiligen, in der Liturgie, in der das Volk Gottes sich immer aufs Neue zur Verheißung des Reiches Gottes bekennt und seinen Anbruch feiert, in den Sakramenten, die uns heiligen. Den Heiligen gehört die Zukunft - das bedeutet nicht einfach: Sie „machen" Geschichte, sondern: Sie bergen diese Geschichte mit all ihren Irrungen und Wirrungen in der Liebe Gottes, sie halten für uns die adventliche Hoffnung wach auf den Heiligen Geist Gottes, dessen Wirken in unserer Schwachheit zur Vollendung kommt.

Hagiographie als Wissenschaft wird immer eine Aufgabe von wenigen sein. Hagiologie als Zeugnis von dem Gott und Vater Jesu Christi, der uns seinen Geist der Heiligkeit sendet, gehört zur Berufung aller Christen. Dieses kostbare Erbe vertraut Walter Nigg uns an.

 


1      Ida Friederike Görres/Walter Nigg/Joseph Ratzinger, Aufbruch, aber keine Auflösung. Brief über die Kirche und anderes, Freiburg 1971, 155-156.

2      Ebd. 158.