Walter Seidel (1988)

Durch seine Bücher und Vorträge in zahlreichen Kirchengemeinden und kirchlichen Bildungshäusern erzielte Walter Nigg eine außerordentliche Breitenwirkung, deren Geschichte im Detail wohl niemals erfasst werden kann. Desto wichtiger sind Zeitzeugen wie Walter Seidel und Max Schoch, deren Darstellungen besonders die pädagogische Ausrichtung von Niggs Arbeiten in den Blick rücken.

Walter Seidel kannte Walter Nigg von einigen Begegnungen und lud ihn gelegentlich zu Vorträgen nach Mainz ein. Der Gast füllte den Mainzer Dom bis auf den letzten Platz. Am 5. November 1988 hielt Seidel eine Gedenkrede auf Walter Nigg im Bildungszentrum Erbacher Hof (Mainz). Seidel war Ende der Vierziger Jahre als junger Mann in Berührung mit Niggs Buch "Große Heilige" gekommen, als er seinem geistlichen Mentor Weihbischof Josef Maria Reuß einen Besuch abstattete. Im Arbeitszimmer des Priestererziehers befand sich ein Betstuhl, auf dem nebeneinander eine Ausgabe des Neuen Testamentes und ein in Leder gebundenes Exemplar von "Große Heilige" lagen. "Ich erinnere mich noch gut, wie der Mainzer Regens auf meine Frage nach dem Bezug beider Bücher zueinander von der Weisheit der Kirche sprach, die in den Heiligenfesten des Kirchenjahres von den Anfängen bis heute neben die zentrale Botschaft Christi das gelebte Evangelium der Heiligen gestellt hat - wie eine lebendige, immer neue und aktuelle Auslegung der Bibel. Und genauso verstand es auch Walter Nigg. "[1] Die Schlüsselszene aus der Biographie von Walter Seidel wirft auch ein Licht auf den Leser, den Walter Nigg vor Augen hatte. Er schuf eine neue Form der Legende; Bücher, die auch laut vorlesbar waren und den Einzelnen oder die Gemeinde zur Andacht führten.

In seiner Gedenkrede versucht Walter Seidel eine Annäherung an Werk und Leben des Hagiographen. Mit seinen Lebensbildern wolle er Geschichte lebendig halten und neue Möglichkeiten der Begegnung mit den großen Zeugen des Glaubens schaffen. "Ja, er hatte geradezu ein Charisma, Leben, gelebtes Christsein in der Geschichte aufzuspüren und in die Gegenwart hereinzuholen."[2] In der Tat steht Niggs Geschichte der Spiritualität im Dienst der Memoria. Wenn der Kern einer Religion in einem sich in geschichtlicher Gestalt realisierenden Offenbarungsgeschehen liegt, dann wird Erinnerungsarbeit zu einem zentralen Element der Weitergabe religiöser Erfahrung. Erinnerung aber entzündet sich für Nigg immer in der personalen Begegnung. Mit Blick auf Niggs Gespräche mit Hermann Kutter betont daher Walter Seidel: "Schon früh war ihm aufgegangen, dass unser Leben von Menschen geprägt wird, die uns begegnen, wie entscheidend es ist, wer uns begegnet, und dass Verlass ist auf Menschen, die im Glauben Gott ganz in ihr Leben eingelassen haben. "[3] Nigg schreibe aus eigener Erfahrung und wolle wiederum seinen Lesern neue Erfahrungen erschließen. Es gehe ihm um ganz persönliche geistliche Beziehungen, die ihn nicht nur als Wissenschaftler herausgefordert, sondern als Mensch geprägt und getragen haben.

Nigg hatte eine große Scheu, Persönliches preiszugeben. Immer wieder betont daher Walter Seidel: "So war ihm alles öffentliche Aufsehen um seine Person ein Greuel."[4] Seidel übersieht hier jedoch einen Widerspruch in Niggs Persönlichkeitsstruktur. Denn so sehr er die Einsamkeit, aus der sein Werk entstand, brauchte und schätzte, so sehr suchte er auf seinen ausgedehnten Lesereisen den Kontakt zur Öffentlichkeit. Einerseits lehnte er Walter Seidels Bitte um ein Portraitphoto für die Bildergalerie der Mainzer Bildungsstätte ab, andererseits war gerade Nigg ein leidenschaftlicher Sammler von Autorenphotos und Totenmasken. Mehrfach spricht Seidel von Niggs "verschmitztem Lächeln"[5], dem "schalkhaften Augenzwinkern"[6] und "vom Charme und auch vom Schalk, der ihm aus den Augen blitzte"[7], ohne jedoch seine zutreffende Beobachtung zu deuten. Unfreiwillig hat Walter Seidel nicht unerheblich zur Mystifikation von Niggs Bild in der Öffentlichkeit beigetragen, wenn er einerseits auf den autobiographischen Gehalt seines Werkes verweist, andererseits eine Art Tabu für die biographische Forschung aufstellt. "Diese Frage berührt den Kern seiner Existenz und das Geheimnis seiner außergewöhnlichen Berufung", hebt Walter Seidel zu Recht hervor, fährt dann aber fort: "Wir können und dürfen hier nur Umrisse einer Antwort behutsam andeuten"[8].

 


[1] Walter Seidel. Walter Nigg - Ein Leben mit den Heiligen. In: Walter Nigg. Friedrich von Spee. Ein Jesuit kämpft gegen den Hexenwahn. Bonifatius Verlag. Paderborn 21991. S. 83-105. (=Gedenkrede, gehalten am 5. November 1988 im Bildungszentrum Erbacher Hof, Mainz). S. 96.

[2] Ibid., S. 85.

[3] Ibid., S. 87.

[4] Ibid., S. 89.

[5] Ibid., S. 88.

[6] Ibid., S. 89.

[7] Ibid., S. 90.

[8] Ibid., S. 92.