Bernd Jaspert (2006)

"Niggs Gesamtwerk hat bis heute keine gründliche Darstellung und Deutung erfahren."[1] Dieses Resümee zieht Bernd Jaspert im zweiten Band seines Werkes "Mönchtum und Protestantismus" (2006), in dem er auf über 100 Seiten vor allen Dingen Niggs Arbeiten zum Mönchtum würdigt. Der evangelische Theologe Jaspert war lange Jahre Präsident der Internationalen Regula Benedicti Kongresse. In seiner fundierten Darstellung der Geschichte des evangelischen Interesses an monastischen Lebensformen wird Niggs Beitrag im Kontext einer breiten Suche nach Möglichkeiten der Erneuerung des spirituellen Lebens aus den Quellen des Mönchtums sichtbar. So kommen auch Niggs Wegbegleiter Erik Peterson und Ernst Benz, verwandte Geister wie Friedrich Heiler und Antipoden wie Karl Barth zur Sprache, ohne dass Jaspert freilich ihre Beziehung zu Nigg erkennt.

Bernd Jaspert, der hauptamtlich als stellvertretender Direktor der Evangelischen Akademie Hofgeismar arbeitet, richtet zuerst seinen Blick auf Niggs Hermeneutik des Heiligen. "Bei der für protestantische Verhältnisse im 20. Jahrhundert neuartigen Schau der Heiligen, die Nigg versuchte, kam es ihm vor allem darauf an, hinter dem jeweils als heilig verehrten Menschen die Tat Gottes zu sehen, die ihm erst die Größe seiner Heiligkeit verleiht und die mit dem Ruhm des Menschen nichts zu tun hat. "[2] Dieser "protestantische Blick Niggs"[3] sehe den Heiligen als Werkzeug der Gnade Gottes. Mit ausführlichen Zitaten gibt Jaspert den Inhalt von "Große Heilige" und "Vom Geheimnis der Mönche" wieder. Da Jaspert für sein auf vier Bände geplantes Projekt im Einzelfall keine Quellenforschung betreiben kann, ist er mit den Grundzügen der Biographie von Walter Nigg nicht vertraut. Dennoch entnimmt er Niggs Hagiographien mit sicherem Gespür, "wie sehr sie dem großen Schweizer protestantischen Hagiographen ans Herz gingen. Seine innere Bewegung konnte er so mitteilen, dass daraus ein Stück existentieller Kirchengeschichtsschreibung wurde, einladend, teilzuhaben am Weg der Großen."[4] Nigg habe einen neuen Ansatz der Kirchengeschichtsschreibung entwickelt, bei dem historische und spirituelle Aspekte mit existentiellen Fragen der Gegenwart verzahnt werden. Die historisch-kritische Methode sei damit keinesfalls überholt, sondern sie werde durch eine Art Wesensschau ergänzt. Diese neue historische Sicht solle es dem modernen Menschen ermöglichen, von den großen Gestalten der Kirchengeschichte zu lernen und eine Ausrichtung seines Lebens zu erfahren. Am Beispiel von Niggs Umgang mit der Vita Antonii des Athanasius stellt Jaspert diese Verschränkung von historisch-kritischer und symbolischer Deutung legendarischer Überlieferung dar: "Wie in all seinen Biographien stellte er auch den Eremiten Antonius in Form einer Erzählung vor, in der er das rein Historische so mit dem Legendären verband, dass daraus eine spannende Geschichte wurde. "[5]

Bei aller Anerkennung seiner erzählerischen Gabe attestiert Jaspert dem Schweizer Hagiographen jedoch ein Unvermögen, "die Texte nach seinem von ihm selbst aufgestellten hermeneutischen Prinzip der symbolhaften Deutungen zu interpretieren und dabei durchaus kritisch zu verfahren"[6]. Dieses Urteil zeigt, dass Jaspert Niggs Hermeneutik nicht vollständig zur Kenntnis genommen hat. Außerdem ist die Quellengrundlage seiner Würdigung zu schmal. So fehlt in diesem Zusammenhang die für Niggs Hermeneutik des Heiligen zentrale Grundlegung "Legenden in legendarischer Sicht"[7]. Auch der Vorwurf, Nigg habe sich "nicht um den Stand der wissenschaftlichen Forschung gekümmert"[8], entbehrt jeder Grundlage. Die Nigg-Bibliothek in Fribourg zeigt, dass ihr einstiger Besitzer die Forschung sehr genau verfolgte. Er war ein viel zu ernster und gewissenhafter Mensch, als dass er eine ironische Mischung aus Dichtung und Wahrheit, wie sie etwa Thomas Mann[9] mit seiner Josephstetralogie vorgelegt hat, für seine Arbeiten akzeptiert hätte. Wie Hans Urs von Balthasar oder Romano Guardini hatte Nigg eine große schriftstellerische Begabung. Er verstand sich als Erzähler von einer letzten heiligen Wirklichkeit, die er in dem großen Reigen der Heiligen wie Sterne aufleuchten sah und auf deren Glanz er seine Zeitgenossen aufmerksam machen wollte. Nigg versuchte jeden Heiligen von dessen eigenen Voraussetzungen her zu verstehen. Dieses Recht steht auch ihm zu. Seine Hagiographien sind an ihren eigenen Maßstäben und dem Ziel der Darstellung zu messen. Anders wird man ihnen nicht gerecht.

Als Autor, der eine neue Form der Hagiographie schaffen wollte, sah sich Nigg immer wieder mit der didaktischen Notwendigkeit konfrontiert, die Fülle des Stoffes im Sinne seiner Zielsetzung zu gliedern und zu akzentuieren. Nigg war die historisch-kritische Sachanalyse durchaus wichtig, aber er wollte und musste über sie hinausgehen, um im erzählten Bild einer vergangenen Gotteserfahrung zugleich auch Möglichkeiten neuer Gottesbegegnungen aufleuchten zu lassen. Auch Jaspert sieht diese Notwendigkeit der didaktischen Reduktion, wenn er in seinem Resümee eine durchaus ambivalente Einschätzung von Niggs Umgang mit den Quellen formuliert: "All das zeigte Nigg in seinen eindrucksvollen, zuweilen an der Forschung souverän, zuweilen sträflich vorbeigehenden Lebensbildern aus dem Mönchtum auf. "[10]

Am Beispiel von Niggs Buch über das Mönchtum verweist auch Jaspert auf den historischen Kontext der frühen Fünfziger Jahre. Er sieht darüber hinaus, dass Niggs Werk immer wieder das Gebetsleben der Heiligen in den Blick nimmt. "Herz und Zentrum des Klosterlebens war für ihn das Gebet"[11]. Wie sehr Gebet und Feier des Abendmahls auch die Mitte von Niggs eigener Spiritualität bildeten, konnte Jaspert nicht wissen, weil bisher keine Biographie vorlag. Niggs Hermeneutik konsequent zu Ende gedacht, hätte sich jedoch einem Spezialisten für das Mönchtum wie Jaspert erschließen müssen, dass die neue Hagiographie in der Tradition des liturgischen Gedächtnisses der Memoria steht.

Jasperts Arbeit zeigt auch die Notwendigkeit einer Werkmonographie von Walter Nigg. Denn trotz allen Fleißes entgehen Bernd Jaspert immer wieder zentrale Texte aus dem breiten und bisher unübersichtlichen Feld der Veröffentlichungen Walter Niggs. Als Beispiel mag das Kapitel über die "Mönchsväter des Ostens im frühen Mittelalter" genügen. Hier behauptet Bernd Jaspert, Nigg habe sich nur mit zwei Gestalten der russisch-orthodoxen Kirche, Feodossij aus Kiew und Sergius von Radonesch, befasst und nicht wie sein Marburger Kollege Ernst Benz das orthodoxe Mönchtum insgesamt in den Blick genommen.[12] Jaspert übersieht hier Niggs Arbeit über Seraphim von Sarow[13] und die zahlreichen Verweise auf Bulgakow und Florenskij. Natürlich kann er nicht wissen, dass sich gerade Walter Nigg, der Benz' zweite Ehe getraut hatte, für die Veröffentlichung des Buches "Russische Heiligenlegenden" (1953) eingesetzt hat.

Auch die bibliographischen Angaben bei Jaspert sind nicht immer zuverlässig. Der Erfolg von «Große Heilige" war für Nigg und seinen Verleger Witz eine große Überraschung, wie ich aus der Korrespondenz mit dem Artemis Verlag inzwischen nachweisen konnte. Die erste Auflage vom Herbst 1946 war sofort vergriffen. Keineswegs aber erschienen, wie Jaspert angibt, im Jahre 1946 insgesamt sechs Auflagen. Dieser Fehler geht auf die Internet-Recherche des Autors zurück, denn hier finden sich antiquarische Angebote mit dieser falschen Angabe. Ein Blick in die leicht zugängliche Erstausgabe von «Große Heilige" hätte Jaspert auch die Erweiterungen und die sprachlichen Überarbeitungen zeigen können, die Nigg ab der 7. Auflage vorgenommen hat. Denn Joseph von Copertino und Katharina von Genua gehören noch nicht, wie Jaspert angibt[14], in die frühe Fassung von "Große Heilige". Dennoch bildet Jasperts Studie die bislang umfangreichste und gründlichste Würdigung von Walter Niggs Leben und Werk.

 


[1] Bernd Jaspert. Mönchtum und Protestantismus. S. 802. Siehe auch S. 696: „Sein Lebenswerk fand bislang noch keine angemessene Würdigung."

[2] Ibid., S. 700.

[3] Ibid., S. 730.

[4] Ibid., S. 715.

[5] Ibid., S. 729.

[6] Ibid., S. 741.

[7] Walter Nigg. Legenden in legendarischer Sicht. In: Walter Nigg. Glanz der Legende. Eine Aufforderung, die Einfalt wieder zu lieben. Artemis Verlag. Zürich und Stuttgart 1964. S. 9-34.

[8] Bernd Jaspert. Mönchtum und Protestantismus. S. 795.

[9] Über Thomas Manns Novelle "Der Tod in Venedig" urteilt Nigg: "Sie ist von der modernen Dekadenz angekränkelt und bleibt im bloß Literarischen stecken. Nur mit dem Intellekt und der Ironie ist der Todesrealität nicht beizukommen." Walter Nigg. Die Hoffnung der Heiligen. Wie sie starben und uns sterben lehren. Herder Verlag. Freiburg 1993. (=Herderbücherei 1800). S. 93. Siehe auch: Uwe Wolff. Heroismus der Schwäche. Tod, Krankheit und Künstlertum im Werk von Thomas Mann. In: Rheinischer Merkur vom 12. Juni 1987.

[10] Bernd Jaspert. Mönchtum und Protestantismus. S. 802.

[11] Ibid., S. 800.

[12] Vgl. ibid., S. 789 und 803.

[13] Walter Nigg. Seraphim von Sarow. In: Walter Nigg. Vom beispielhaften Leben. Neun Bilder und Wegweisungen. Walter Verlag. Olten und Freiburg. 1974. S. 171-189.

[14] Vgl. Bernd Jaspert. Mönchtum und Protestanismus. S. 714.