Mobilität11.12.2025

Den Bahnhof lesen, wenn man mit einer Behinderung lebt


Gedränge, Bauarbeiten, verspätete Züge, Lautsprecherdurchsagen: Für Menschen mit Behinderung kann die Orientierung in Bahnhöfen bisweilen zu einer echten Herausforderung werden. Dies zeigt eine Studie der Universität Freiburg, die während einer Grossbaustelle im Bahnhof Freiburg durchgeführt wurde.

Bahnhöfe sind Orte mit einer Fülle an wichtigen Informationen: eine dichte Beschilderung, Zugfahrpläne auf Plakaten und Bildschirmen, Braille-Tafeln, Lautsprecherdurchsagen usw. Angesichts dieses Informationsüberflusses fällt es den Nutzer_innen von öffentlichen Verkehrsmitteln mitunter schwer, sich zurechtzufinden, insbesondere bei unvorhergesehenen Ereignissen, Verspätungen oder Bauarbeiten. Für Menschen mit Behinderung ist diese Aufgabe oft noch anspruchsvoller, da das Wahrnehmen und Interpretieren der Informationen je nach Fähigkeiten oder Bedürfnissen besonders komplex sein kann.

Sich der Realität stellen
Ausgestattet mit einem Smartphone oder Tablet haben Menschen mit motorischen, sensorischen (Seh- und Hör-) sowie kognitiven Einschränkungen von Januar bis April 2025 den Bahnhof Freiburg durchstreift und sämtliche Informationen dokumentiert, die sie lesen, hören oder fühlen mussten, um sich orientieren zu können. «Auf diese Weise konnten wir nachvollziehen, welche Strategien diese Personen anwenden mussten, um sich in einer Umgebung zurechtzufinden, die sich mitten im Umbau und in einem tiefgreifenden Wandel befand», erklärt Philippe Humbert, Projektleiter am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg.

Lesen, um Hindernisse zu überwinden

  • Technologische und digitale Hilfsmittel: Während einige Teilnehmende die Anwendungen auf ihrem Smartphone (insbesondere dank Geolokalisierungs-Tools) erfolgreich nutzen konnten, erwiesen sich diese für andere als kaum überwindbare Hürde. Um beispielsweise ohne Bankkarte die Toiletten des Bahnhofs zu betreten, mussten Anweisungen gelesen werden, die für manche sehbehinderte oder kognitiv beeinträchtigte Menschen nicht selbstständig umsetzbar waren.
     
  • Vielzahl von Hilfsmitteln: Um den richtigen Weg zu finden, müssen oft mehrere Hilfsmittel konsultiert und teils komplexe Verknüpfungen zwischen den Informationsquellen hergestellt werden. So hatten beispielsweise die meisten Teilnehmenden Mühe, von den SBB-Bahnsteigen zu den Busperrons der TPF zu gelangen.
     
  • Verwirrende Beschilderung: Einige unter Zeitdruck verfasste Hinweise – etwa zu defekten Fahrstühlen – ermöglichten es den Teilnehmenden nicht, den alternativen Weg autonom zu finden. In solchen Situationen kann die Hilfe durch Bahnhofspersonal ausreichen, dieses stand jedoch nicht immer zur Verfügung.
     
  • (Un)vorhersehbare Hindernisse: Die SBB bemühen sich, gewisse Hindernisse durch eine angepasste Beschilderung zu antizipieren, etwa mit Schildern, die Umwege für Menschen mit eingeschränkter Mobilität ausweisen. Jedoch unabhängig davon, ob gerade Bauarbeiten stattfanden oder nicht, blieben mehrere Bereiche des Bahnhofs mit Hindernissen übersät – etwa ein Schild, das mitten auf dem Gehweg stand und den Durchgang unpassierbar machte.
     
  • Ein inklusiver Ansatz über die Thematik von Behinderung hinaus: Die Beobachtungen von Menschen mit Behinderung machten es möglich, Herausforderungen beim Lesen von Informationen zu identifizieren, die alle Nutzer_innen des Bahnhofs betreffen können – mit oder ohne Behinderung.

Originelle Ideen zur Verbesserung der Informationsvermittlung
Auf Grundlage dieser Beobachtungen sowie der Diskussionen mit den Teilnehmenden hat Philippe Humbert, Autor der Studie, mehrere Handlungsansätze formuliert, die weiter untersucht werden sollen. Seiner Ansicht nach ist es unerlässlich, «Synergien zwischen akademischen, zivilgesellschaftlichen, institutionellen und pädagogischen Akteur_innen sowie den Bereichen Bauwesen und öffentlicher Verkehr zu schaffen». Diese innovativen Ansätze reichen von der Entwicklung von Schulungen zum Auffinden und Interpretieren von Informationen im Bahnhof, mit oder ohne Smartphone-App, bis hin zur Anstellung von Menschen mit Behinderung in Kommunikationsfunktionen bei öffentlichen Verkehrsbetrieben. Sämtliche Ansätze und Analysen sind im Bericht enthalten, der in einer Lang-, Kurzversion sowie in Leichter Sprache verfügbar ist.

Zur Studie
Projektwebseite
Detaillierter Forschungsbericht (auf französisch)
Zusammenfassung des Forschungsberichts (auf französisch)
Kurzversion in Leichter Sprache

Das Institut für Mehrsprachigkeit ist ein unabhängiges Forschungsinstitut der Universität Freiburg. Forschende aus Linguistik, Psycholinguistik, Soziolinguistik und Sprachlehr- und Sprachlernforschung betreiben Grundlagenforschung zur Mehrsprachigkeit in Gesellschaft, Schule, Arbeitswelt und Politik und arbeiten eng mit nationalen und internationalen Partnern zusammen.