Psychologie20.10.2020

Das Maskulinum als Standardform– ein Problem für unser Gehirn


Weshalb fällt es so schwer, das Maskulinum als Frauen einschliessend zu erfassen? Eine Antwort darauf geben – basierend auf jahrzehntelanger Forschung – Sayaka Sato und Pascal Gygax von der Universität Freiburg in einem gemeinsam mit einem norwegischen Team in der internationalen Fachzeitschrift Language Sciences publizierten Artikel.

Das Maskulinum hat mehrere Bedeutungen. Unser Gehirn muss unter den ihm bekannten Sinngehalten eine Auswahl treffen. Dabei stützt es sich auf den Kontext, der ihm am plausibelsten erscheint. Nun zeigen aber in mehreren Sprachen durchgeführte Forschungsarbeiten, dass unser Gehirn Mühe mit diesen Mehrdeutigkeiten hat. Es wird sich automatisch auf die Bedeutung konzentrieren, die es am leichtesten und am raschesten abrufen kann, d.h. es geht den einfachsten Weg.

Polysemie des Maskulinums
Beim Lesen des Satzes «Caesar war grösser als Pompeius» kommt Ihnen wahrscheinlich zuerst die Körpergrösse in den Sinn, bevor Sie an die Bedeutung der beiden Feldherren denken. Tatsächlich überwiegt die wörtliche Bedeutung von «gross» und ist daher einfacher zu aktivieren. Ein analoges Phänomen besteht in Zusammenhang mit dem grammatikalischen Maskulinum. Das Gehirn wählt die leichter zu aktivierende Bedeutung aus: jene, mit der es am besten vertraut ist. Die Autor_innen des Artikels unterstreichen, dass die «spezifische» Bedeutung des Maskulinums (männlich = Mann) jene ist, die wir zuerst lernen – sei es implizit im Vorschulalter oder explizit im Schulalter. In zeitlicher Hinsicht erfolgt das Erlernen der zweiten, sogenannten «generischen» Bedeutung (männlich = gemischtgeschlechtlich oder neutral) später. Dieses Ungleichgewicht hat zur Folge, dass die «spezifische» Bedeutung des Maskulinums ganz klar überwiegt.

Soziale Implikationen
Gemäss den Forschenden verfälscht die Dominanz der «spezifischen» Bedeutung des Maskulinums das Bild, das wir uns von unserer Gesellschaft machen. Mit anderen Worten: Die Männer erhalten dadurch in unseren Vorstellungen mehr bzw. zu viel Platz. Somit vermittelt bzw. verstärkt die Sprache unseren Androzentrismus, d.h. die Tatsache, dass in unserer Gesellschaft, in der alles durch ein männliches Prisma gedacht und organisiert wird, die Männer im Mittelpunkt stehen.
 

> Link zu dem in Language Sciences veröffentlichten Artikel