Islam und GesellschaftPublikationsdatum 16.12.2025
Studie zeigt Perspektiven für einen diversitätssensiblen europäischen Islam
Muslimische Seelsorgende können in europäischen Kontexten zu einer professionellen und auf diverse Bedürfnisse von Individuen ausgerichteten Spiritual Care beitragen. Dies zeigt eine neue Studie des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft und der Fakultät für Islamische Studien der Universität Sarajevo. Die Erkenntnisse lassen sich für Weiterbildungen verschiedener Berufsgruppen nutzen.
Fortschreitende Individualisierung und Pluralisierung erfordern neue Formen, um Menschen in Krisensituationen zu begleiten. Spiritual Care verbindet spirituelle und religiöse Ressourcen zu einem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit. Damit das gelingt, müssen Imame und muslimische Betreuungspersonen über ein hohes Mass an Professionalität verfügen und in die Zusammenarbeit mit Fachpersonen aus Gesundheit, Psychologie oder Pflege eingebunden sein. So trägt Spiritual Care auch zur Weiterentwicklung eines diversitätssensiblen Islamverständnisses in Europa bei.
Spitäler, Gefängnisse und Armee
Das Forschungsteam untersuchte über ein Jahr hinweg die Praxis von muslimischer Spiritual Care in der Schweiz und in Bosnien-Herzegowina – in Spitälern, Gefängnissen und der Armee. Die explorativ angelegte Studie beleuchtet unter Berücksichtigung der rechtlichen Rahmenbedingungen berufliche Anforderungen und typische Herausforderungen im institutionellen Alltag. Fallbeispiele aus Interviews mit Praktiker_innen verdeutlichen dies konkret: Ein Soldat erhält in einer akuten Situation eine auf seine Bedürfnisse zugeschnittene Begleitung; ein Häftling profitiert von einer Intervention, die spirituelle und psychologische Elemente verbindet.
Sie zeigen wie muslimische Betreuungspersonen, Imame und Seelsorgende zwischen individuellen spirituellen Bedürfnissen und institutionellen Vorgaben vermitteln. Dabei erweisen sich Kernkompetenzen als entscheidend: interreligiöse und interprofessionelle Kooperation mit Pflegekräften oder Psycholog_innen, sowie ein breites Repertoire an Interventionsmöglichkeiten, das flexibel auf Situation und Betroffene abgestimmt ist. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass Sensibilität für unterschiedliche Lebensrealitäten, auch von Menschen mit geringer religiöser Sozialisation, wesentlich für professionelle Spiritual Care ist. Die Studie lässt sich für Weiterbildungen verschiedener Berufsgruppen nutzen.
Schweizerisch-Bosnischer Erfahrungsaustausch
Die Kooperation zwischen dem Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) und der Fakultät für Islamische Studien der Universität Sarajevo (FIN) ermöglichte einen intensiven Erfahrungsaustausch und Wissenstransfer. Während in der Schweiz religiöse Diversität über das Christentum hinaus erst seit wenigen Jahrzehnten wahrgenommen wird, verfügt Bosnien-Herzegowina über eine lange Erfahrung des interreligiösen Zusammenlebens sowie eine europäisch geprägte Islamtradition, die auch wissenschaftlich aufgearbeitet wurde. In der Schweiz wiederum ist Spiritual Care etwa in Gesundheitseinrichtungen und Gefängnissen stärker institutionell eingebunden, was Perspektiven für die Weiterentwicklung dieses Feldes in Bosnien-Herzegowina aufzeigt.
Die Studie wurde von einem interdisziplinären Forschungsteam unter der Leitung des SZIG-Direktors Hansjörg Schmid durchgeführt und von der nationalen Agentur zur Förderung von Austausch und Mobilität im Bildungssystem Movetia unterstützt. Vom SZIG war ausserdem die Islamwissenschafterin Amira Hafner-Al Jabaji, von Seiten der Universität Sarajevo der Psychologe Aid Smajić sowie der Religionshistoriker Ahmet Alibašić beteiligt.
Über die beteiligten Institutionen
Die Fakultät für Islamische Studien der Universität Sarajevo (FIN) besteht seit 1887 und ist die renommierteste Einrichtung ihrer Art auf dem Balkan. Seit ihrer Gründung sieht sie es als ihre Aufgabe, religiöse und säkulare Wissensbestände konstruktiv zusammenzuführen. Ein Teil der in der Schweiz tätigen Imame wurde dort ausgebildet.
Das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) ist ein interfakultäres Institut der Universität Freiburg. Es betreibt Forschung, bietet das Masterprogramm «Islam und Gesellschaft» sowie den Weiterbildungsstudiengang «Muslimische Seelsorge in öffentlichen Institutionen». Es arbeitet regelmässig mit Behörden, Religionsgemeinschaften sowie Hochschulen in der Schweiz und im europäischen Ausland zusammen. Das SZIG feierte im Mai dieses Jahres sein zehnjähriges Bestehen.
Studie
Hansjörg Schmid/Aid Smajić/Amira Hafner-Al Jabaji/ Ahmet Alibašić, Professionalising Muslim Spiritual Care in Plural Societies. Swiss and Bosnian Experiences (SZIG/CSIS-Studies 15). Fribourg: Swiss Centre for Islam and Society. DOI: 10.51363/unifr.szigs.2025.015
