PressemitteilungPublikationsdatum 20.06.2025

Sexueller Missbrauch in der Abtei Saint-Maurice


Im Jahr 2023 erschienen mehrere Fernsehsendungen und Medienbeiträge zu Fällen des sexuellen Missbrauchs, die sich im vergangenen halben Jahrhundert im Umfeld der Abtei Saint-Maurice ereignet hatten. Um diese Fälle aufzuklären, ersuchte die Abtei, für die der Vatikan einen Apostolischen Administrator ernannt hatte, den Generalstaatsanwalt des Kantons Neuenburg, Pierre Aubert, eine unabhängige Arbeitsgruppe zu bilden. Diese Arbeitsgruppe wurde rund um das Departement für Zeitgeschichte der Universität Freiburg aufgebaut, unter der Mitwirkung der emeritierten Professorin Anne-Françoise Praz und der Dozentin und Forscherin Stéphanie Roulin. Im Mai 2024 konnten dank einer Vereinbarung zwischen der Universität Freiburg und der Abtei zwei Forscherinnen mit einem 50-Prozent-Pensum angestellt werden: Lorraine Odier, Doktorin der Sozialwissenschaften, und Magali Delaloye, Doktorin der Geschichte. Die Forscherinnen befassten sich insbesondere damit, die Archivunterlagen des Klosters, zu denen sie freien Zugang hatten, zu sichten und zu analysieren. Die Arbeitsgruppe wurde unterstützt von Claire-Lise Mayor Aubert, Neuenburger Kantonsrichterin im Ruhestand, welche insbesondere die Anhörung der Chorherren übernahm. Jedes Mitglied der Gruppe trug zur Erfassung von Aussagen und zur Erstellung des Berichts bei; insgesamt nahm die Arbeit ein Jahr mit zwei Personen in Vollzeit in Anspruch.

Bei den Ermittlungsarbeiten ging es weniger um eine vertiefte Untersuchung von Einzelfällen. Wichtiger war, festzustellen, welche Situationen von Gewalt oder sexuellem Missbrauch die Zeugenaussagen und das Archivmaterial ans Licht brachten, in welchem Kontext diese Gewalt verübt wurde, wie die Institution damit umgegangen war, welche Konsequenzen sie für die Täter hatte, wie die Menschen, die ihr zum Opfer fielen, angehört wurden und ob im Laufe der Zeit eine Veränderung dieser Faktoren beobachtet wurde. Die Abtei erwartete zudem Empfehlungen zur künftigen Vermeidung derartiger Vorkommnisse bzw. zu einem effektiven Umgang damit. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich auf die Abtei und das Internat; die Schule (Kollegium) konnte im Rahmen des Mandats nicht berücksichtigt werden.

Vielfältige Gewalt
Bei den einzelnen Sachverhalten handelt es sich mehrheitlich um Gesten oder Worte mit sexuellem Bezug in einem Autoritätsverhältnis, wiederholte sexualisierte Berührungen, ambivalente Fotosessions, verführerisches Verhalten in einem Autoritätsverhältnis, exhibitionistische Handlungen und Konsum von Kinderpornografie-Abbildungen. Die Rede war auch von sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen und erzwungenen Abtreibungen. Hinzu kommen Formen geistlichen Missbrauchs sowie körperliche Misshandlung im Internat. Die Vorfälle ereigneten sich zwischen 1960 und 2024, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Abtei, in der Schweiz und im Ausland. Bei den Tätern handelt es sich um Chorherren sowie weitere Personen mit Bezug zur Abtei. Hier soll festgehalten werden, dass es der Arbeitsgruppe nicht zustand, sich zur Tatsächlichkeit der ihr vorgelegten Sachverhalte zu äussern, sofern diese glaubhaft waren.

Die ordentliche Gerichtsbarkeit wurde nicht mit allen im Rahmen dieser Untersuchung erfassten Sachverhalten befasst; einige davon fielen zudem unter keinen Straftatbestand. Von 1970 bis heute wurden gemäss dem Wissensstand der Arbeitsgruppe fünf Strafverfügungen gegen drei Chorherren und einen Novizen erlassen und eine grössere Anzahl Prozesse eingestellt, sei es in Ermangelung hinreichender Anklagepunkte oder aufgrund von Verjährung. Die Arbeitsgruppe hat keinen Fall identifiziert, der unter die gesetzlichen Bestimmungen fallen könnte und nicht bereits entschieden oder nachweislich verjährt wäre. Ein Prozess läuft noch. Er betrifft jedoch keinen Chorherren, sondern eine weltliche Person mit Bezug zur Abtei.

Unzulängliche institutionelle Bearbeitung
Die Arbeitsgruppe hat die sozialhistorischen Umstände in der Abtei untersucht, die den Hintergrund für die Gewalt und den Umgang damit bilden. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf das Tabu gelegt, das die Sexualität der Priesterschaft im Allgemeinen und der Abtei im Besonderen umgibt. Fokussiert wurde auch auf die Banalisierung der Gewalt im Internat und die entsprechende Entwicklung im Lauf der Jahrzehnte sowie auf das Prestige der Abtei, das dazu führte, dass Anschuldigungen nicht berücksichtigt wurden.

Ähnlich wie andere kirchliche Gemeinschaften nahm die Abtei eine eher defensive Haltung ein. Sie zog es vor, die Fälle diskret intern zu regeln, beispielsweise indem sie die von Opfern oder ihnen nahestehenden Personen geschilderten Sachverhalte herunterspielte oder die beschuldigte Person für eine mehr oder weniger lange Zeit versetzte, wenn dies nötig erschien. Seit der Arbeitsgruppe ein Mandat erteilt wurde, hat die Leitung der Abtei, soweit es sich beurteilen lässt, sämtliche ihr bekannten Sachverhalte, die strafrechtlich relevant sein könnten, an die ordentliche Gerichtsbarkeit gemeldet, und das auch, wenn sie nachweislich verjährt waren. Parallel dazu beliess man allerdings Mitglieder der Gemeinschaft mit ambivalentem oder gar widerrechtlichem Verhalten ohne besondere Vorsichtsmassnahmen im Amt. Festgestellt wurde auch eine gewisse Laschheit bei der Überwachung von zwei Geistlichen aus anderen Gemeinschaften, die mehrere Jahre in der Abtei verweilten oder noch dort verweilen, obwohl ihr Verhalten zu Beschwerden oder sogar Disziplinarmassnahmen hinsichtlich sexueller Gewalt an ihrem vorherigen Aufenthaltsort geführt hatte.

Die Arbeitsgruppe hat zudem beobachtet, dass die Mitglieder der Gemeinschaft nicht ausreichend angeleitet und unterstützt werden. Dieses Klima hat unzulässige Verhaltensweisen möglicherweise begünstigt und konnte in manchen Fällen ein wiederholtes Auftreten nicht verhindern: Einige Chorherren wurden mehrfach angeschuldigt oder sogar verurteilt, ohne dass die Einrichtung die Massnahmen ergriff, die nötig gewesen wären.

Zusammenfassend ergibt sich aus dieser Studie, dass im Umfeld der Abtei Saint-Maurice eine nicht unerhebliche Anzahl von Handlungen erfolgte, die im weiteren Sinne unter sexuelle Gewalt fallen, dass es sich dabei strafrechtlich gesehen mehrheitlich um Zuwiderhandlungen von geringer oder mittlerer Schwere handelte und dass die Abtei sich ihrer diesbezüglichen Pflichten erst bewusst geworden ist nach massivem Eingreifen von Medien und Öffentlichkeit. Wie immer in einem solchen Kontext ist davon auszugehen, dass eine unbestimmte Anzahl von Handlungen seitens der Opfer nicht publik gemacht wurde, und auch die dargelegten Vorkommnisse konnten nicht immer schlüssig geklärt werden.

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