Dessiner voir

Die Zeichnung als epistemologisches Werkzeug in der Kunstgeschichte

Präsentation

Das Projekt Dessiner voir möchte die epistemischen Funktionen der Zeichnung in der kunsthistorischen Praxis untersuchen. Seit der akademischen Etablierung dieser Disziplin im 19. Jahrhundert hat eine grosse Mehrheit der Kunsthistoriker*innen die Zeichnung genutzt, um Kunstwerke zu beobachten, zu dokumenteieren, zu klassifieren und zu interpretieren. Trotz der Fülle an Dokumentationen, die diese Praxis belegen, ist die Verwendung dieser Werkzeuge kaum bekannt. Die wissenschaftliche Literatur zu diesem Werkzeug ist im spezifischen Bereich der Kunstgeschichte äusserst begrenzt und befasst sich nur am Rande mit der epistemischen Frage.

Um diese Lücke zu schliessen und um den Stellenwert des grafischen Werkzeuges in der Kunstgeschichte zu situieren, wird die Vielfalt seiner Verwendung in verschiedenen akademischen Kulturen (europäisch und aussereuropäisch) untersucht. Es wird die Entwicklung seiner Formen im Laufe der methodischen Veränderungen beobachtet, die die Kunstgeschichte vom 19. bis zum 21. Jahrhundert beeinflusst haben, und schliesslich werden seine epistemischen Funktionen mit denen verglichen, die ihm in anderen Disziplinenbereichen zugeschrieben werden (Geistes- und Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften usw.).

Die Analyse der aspektuellen und kognitiven Qualitäten der Zeichnung ermöglicht es, die beinahe ausschliessliche Logozentriertheit der Kunstgeschichte aufzubrechen. Diese beinhaltet insbesondere die Identifizierung der visuellen Quellen des grafischen Instruments und die Untersuchung seiner Rolle in der Wissensbildung. Dieser visuelle Ansatz wird jedoch die verbale Sprache nicht überdecken. Tatsächlich sind die grafischen Dokumente (lose Blätter, Notizbücher usw.) voller Anmerkungen, die eher eine Verflechtung von Schrift und Zeichnung als eine strikte Trennung dieser beiden Wissensformen erkennen lassen. Die Studie wird die Unterschiede und Berührungspunkte zwischen dem Sichtbaren und dem Lesbaren berücksichtigen. Die Analyse dieser beiden semiotischen Systeme wird es uns ermöglichen, die jeweiligen Funktionen von Zeichnung und Text im «Labor» der Kunsthistoriker*innen besser zu verstehen.

 

Ziele

Das Projektteam wird diese Untersuchung entlang mehrerer methodischer Achsen durchführen. Um die Funktion der Zeichnung als Instrument innerhalb der Kunstgeschichte genauer bestimmen zu können, wird es zunächst notwendig sein, eine Archäologie dieses grafischen Instruments als wissenschaftliches Werkzeug vor dem Siegeszug der Fotografie durchzuführen. Die verschiedenen identifizierten Funktionen lassen sich in sieben Gruppen einteilen, die unterschiedlichen, aber sich ergänzenden Zwecken der Zeichnung entsprechen: 1. der phänomenologischer Gebrauch; 2. der dokumentarische Gebrauch; 3. der taxonomischer Gebrauch; 4. der analytische Gebrauch; 5. der experimenteller Gebrauch; 6. der konzeptioneller Gebrauch; und 7. der rhetorische oder pädagogische Gebrauch.

Das Projekt widmet sich hauptsächlich westlichen, akademischen Traditionen widmet, dennoch bietet es sich an, den Forschungsumfang über die westliche Tradition hinaus zu erweitern und Zeichnungen von nicht-westlichen oder aus dem ehemaligen Ostblock stammenden Kunst- und Architekturhistoriker*innen zu untersuchen. Neben diesem umfassenden Ansatz legt die Studie auch einen besonderen Schwerpunkt auf das Schweizer Korpus. Darüber hinaus wird der Einsatz von Zeichnungen über geschlechtsspezifische Unterschiede hinaus betrachtet. Angeregt durch die aktuelle wissenschaftliche Debatte sollte eine umfassendere Erforschung der Archive dazu beitragen, diese Lücke zumindest teilweise zu schliessen. Darüber hinaus müssen, ohne einen Unterschied in der Verwendung grafischer Instrumente vorauszusetzen, bestimmte historisch bedingte Arbeitsbedingungen von Frauen bei der Analyse ihrer Zeichnungen berücksichtigt werden.

 

Inhalt

Die Forschung wird sich in zwei miteinander verflochtene Richtungen entwickeln: Zum einen sollen Zeichnungen von Kunsthistoriker*innen aus Archiven und kunsthistorischen Instituten in der Schweiz, Europa und weltweit erschlossen und zum anderen sollen diese aus transdisziplinärer Perspektive kritisch analysiert werden. Diese Sammlung soll zu einem frei zugänglichen Archivverzeichnis beitragen. Das Archivverzeichnis bietet einen umfassenden Überblick über ein schwer zugängliches Erbe und stellt ein unverzichtbares Arbeitsinstrument für künftige Generationen dar.

Neben dem Verfassen einer Synthese, einer Doktorarbeit und gelegentlicher wissenschaftlicher Artikel werden die Projektmitglieder mit einem Netzwerk von Forschenden zusammenarbeiten, die sich bereits mit dieser Art von Dokumenten befasst haben. Der Dialog wird durch halbjährliche Workshops gefördert, die sich jeweils einem spezifischen Thema widmen: den epistemischen Funktionen der Zeichnung, der Materialität von Archiven, dem Zeichnen im Vergleich zu anderen visuellen Mitteln usw. Darüber hinaus wird eine partizipative Online-Umfrage gestartet, bei der Archivkurator*innen, Kunsthistoriker*innen und Historiker*innen eingeladen werden, über Sammlungen mit Zeichnungen zu berichten.

Um diese Anwendung der Zeichnung auch über den akademischen Bereich hinaus erlebbar zu machen, wird in einem Schweizer Museum ein öffentlicher Workshop organisiert, bei dem gemeinsam mit Kunsthistoriker*innen und Zeichner*innen die verschiedenen erkenntnistheoretischen Anwendungsmöglichkeiten des grafischen Mediums erprobt werden.

Für das letzte Semester ist ein internationales Abschlusskolloquium geplant. Es wird die Projektmitglieder, die Forschenden, die an den Diskussionen der verschiedenen Workshops beteiligt waren, sowie weitere Fachleute zusammenbringen.

FNS