Freiwilligkeit und Geschlecht. Neuverhandlung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung seit den 1970er- Jahren
SNF-Projekt unter der Leitung von Regula Ludi und Matthias Ruoss, Mitarbeit von Sarah Probst, Doktorandin (Laufzeit: 2021-2025).
Freiwilligkeit ist ein Thema von grosser Aktualität. In der Schweiz ist die Bereitschaft zum unentgeltlichen Engagement anhaltend hoch. Hingegen haben sich Praktiken und Rahmenbedingungen der Freiwilligkeit in den letzten Jahrzehnten stark verändert.
Ein Beitrag zur Geschichte der Gegenwart - eine Anregung zum öffentlichen Dialog
Das Projekt untersucht die Ursachen und Auswirkungen dieses Wandels mit Schwerpunkt in der Schweiz. Ausgangspunkt ist die strukturelle Verzahnung von Freiwilligkeit und Geschlechterordnung in der Zeit des neoliberalen Umbaus von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Seit den 1970er-Jahren haben die Prinzipien des Wettbewerbs und des individuellen Erfolgs immer weitere Lebensbereiche durchdrungen. Parallel dazu führten die neue Frauenbewegung, die steigende Frauenerwerbstätigkeit und der Eintritt der Schweizerinnen in die institutionelle Politik zu einer Neuverhandlung der geschlechtlichen Arbeitsteilung.
Kritik an der Gratisarbeit und Freiwilligkeit im feministischen Milieu
Die herkömmliche geschlechtliche Arbeitsteilung geriet in den 1970er-Jahren in eine Krise. Die neue Frauenbewegung verurteilte die Erwartung, dass Frauen gratis gesellschaftlich unentbehrliche Leistungen erbringen. Gleichzeitig entstanden feministische Projekte wie Frauenhäuser, Beratungsstellen oder Notruftelefone, die Lücken im sozialstaatlichen Dienstleistungsangebot füllten. Als autonome Frauenräume waren sie Orte der Emanzipation und der gesellschaftlichen Veränderung. Doch sie beruhten ihrerseits auf der unbezahlten Arbeit der Aktivist:innen. Ihre Geschichte bündelt beispielhaft die Widersprüche und institutionellen Zwänge des unentgeltlichen Engagements unter dem Eindruck sozialer Umbrüche und des politischen Wandels.
Neucodierung und neue Sichtbarkeit der Freiwilligkeit - Wissensproduktion als Faktor des Wandels
In den 1980er-Jahren nahm das Interesse der sozialwissenschaftlichen Forschung an der freiwilligen Tätigkeit stark zu. Eine Ursache dafür war die transnationale Politisierung der unbezahlten Arbeit. Wichtige Anregungen kamen auch aus den Kreisen der organisierten Wohltätigkeit, die sich nach eigenem Bekunden in einer Krise befand und nach neuen Methoden zur Anwerbung Freiwilliger suchte. Seit 1997 wird Freiwilligkeit in der Schweiz regelmässig statistisch erfasst und als systemrelevante Arbeit sichtbar gemacht. Diese Verwissenschaftlichung hat die öffentliche Wahrnehmung der Freiwilligkeit verändert. Quantitative Erhebungen machen die Freiwilligkeit zum Objekt wissenschaftlicher Erforschung und zum Ziel politischer Steuerung.
