• Judith Bodendörfer

    Im 19. Jahrhundert ändert sich der Diskurs über „Religion“ grundlegend. Der Glaube an geoffenbarte Texte als einzige Quelle religiöser Erkenntnis wird durch den Historismus und die Naturwissenschaften zurückgedrängt. Zunehmend rücken Modelle von Erfahrung ins Zentrum religiöser Wahrheitsansprüche, die häufig unter dem Begriff „Mystik“ zusammengefasst werden. In diese Zeit des religiösen Umbruchs fällt sowohl die Entstehung der Religionswissenschaft als eigene Disziplin als auch die Gründung von heute oft als esoterisch bezeichneten, religiösen Strömungen, wie die der einflussreichen Theosophischen Gesellschaft.

    Die verschiedenen Gruppen und Wissenschaftler beschreiben „mystische Erfahrung“ unterschiedlich. Während der Indologie Friedrich Max Müller die Universalisierbarkeit religiöser Erfahrung in der menschlichen Vernunft gegeben sieht, geht der Religionspsychologe William James von der Möglichkeit einer übersinnlichen Erfahrung aus, die sich der Logik entzieht. Die Theosophische Gesellschaft konzipiert, vom akademischen Diskurs beeinflusst, wieder eigene Kriterien religiöser Legitimation durch Erfahrung.

    Die mystische Erfahrung wird als Paradigma der frühen Religionswissenschaft verstanden, das in ständiger Abhängigkeit von historischen oder zeitgenössischen Erfahrungsberichten steht, wie sie Müller aus religiösen Texten oder James aus Experimenten gewinnt. Die Analyse dieser Berichte, sowie die Berichte selbst sind wieder beeinflusst von Annahmen über religiöse Erfahrung, die bestimmten kulturellen Kontexten entspringt. Die Aufarbeitung dieser Kontexte und deren Einfluss auf die Beschreibung und Bewertung religiöser Erfahrung bildet den Kern der Arbeit.

    Die Arbeit ist Teil des SNF Projektes „Die Genese der universitären Religionswissenschaft in der Auseinandersetzung mit nichthegemonialen, insbesondere theosophischen Traditionen", das in das Verbundprojekt "Gesellschaftliche Innovation durch 'nichthegemoniale' Wissensproduktion" eingegliedert ist.

  • Yves Mühlematter

    Schule als Ort der „höheren Erkenntnis“. Theosophie zwischen Philologie, Hinduismus und sozialem Engagement

     

    Die Relativierung der scheinbar allgemeingültigen Wissensbestände durch die sich etablierende empirische Wissenschaft und die Philologie, die in der Anwendung auf die Bibel deren Historizität erforschte (Historismus) und durch die Erschliessung aussereuropäischer Schriften eine Relativierung der christlichen Positionen mit sich brachte, führte zu einer Unsicherheit in der Gesellschaft. Katalysiert durch die „Beschleunigung“ und Veränderungen in der althergebrachten Hierarchisierung der Gesellschaft wurde diese Unsicherheit in Teilen der Gesellschaft zur Suche nach neuen Wissensbeständen transformiert. Diese „neuen Religionen“ (Okkultismus, Esoterik etc.), die sich in ihrem Selbstverständnis auf Jahrtausende altes universelles Wissen (Philosophia perennis) stützen und gleichzeitig die Wissenschaftlichkeit ihrer Methoden betonten, suchten unter anderem in Indien nach den philologischen Beweisen der universellen Wahrheit. Eine zentrale Gruppierung in diesem Milieu war die Theosophische Gesellschaft, die 1875 von Helena Blavatsky, Henry Olcott und anderen in New York gegründet wurde. Wenig später verlegten sie ihr Hauptquartier nach Adyar, Indien, wo es noch heute steht und legten eine umfangreiche Bibliothek mit Sanskritmanuskripen an. In der Folgezeit gründeten die Theosophen zahlreiche Schulen auf Ceylon, heute Sri Lanka, in Indien und anderswo. Namentlich Annie Besant, die zur zweiten Generation der Theosophen gehörte und 1907 nach Olcotts Tod die Leitung der Theosophischen Gesellschaft übernahm, gründete Schulen in ganz Indien, die zum Teil bis heute bestehen. Das Central Hindu College in Vārānasi ist herauszuheben, da dieses zu den ersten Schulgründungen Besants gehört und später zum Nukleus der Benares Hindu University (BHU) wurde. Das Board of Trustees, zu dem auch Besant gehörte, veröffentlichte drei Schulbücher, die Sanātana Dharma Textbücher, die für die religiöse Erziehung im Central Hindu College eingesetzt werden sollten. Diese Bücher wurden in verschiedene indische Sprachen übersetzt und in den Anfängen der BHU auch dort als Schulbücher eingesetzt. Unter Einbezug historischer und philologischer Methoden, gestützt auf translationswissenschaftliche und komparationswissenschaftliche Theoriemodelle untersucht Yves Mühlematter die gegenseitigen Einfluss- und Transformationsprozesse zwischen „Hinduismus“ und „Theosophie,“ wie sie sich in den Sanātana Dharma Textbüchern niederschlugen.

     

    Keywords: Hinduismus, Translation, Esoterik, Komparatistik