Publikationsdatum 17.11.2022

Das Wort des Dekans, Joachim Negel - HS 2022/II


Liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät
Liebe Freundinnen und Freunde

In den seit Monaten sich überschlagenden Nachrichten vom Krieg in der Ukraine ist eine ganz andere Nachricht fast unbemerkt geblieben. Eigentlich handelt es sich nur um eine statistische Meldung, aber sie ist von hoher symbolischer Bedeutung: Mitte dieses Monats hat die Weltbevölkerung die Zahl von acht Milliarden überschritten. Was das bedeutet, liegt auf der Hand: Die Zahl acht Milliarden bedeutet eine Verdoppelung der Weltbevölkerung seit dem Jahr 1974 und eine Vervierfachung seit dem Jahr 1927. In den kommenden 30 Jahren wird sich diese Zahl den Prognosen zufolge um gut weitere zwei Milliarden auf ca. 10,3 Milliarden erhöhen. Die ökologischen, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen sind gravierend – Stichwort: Klimawandel, Vermüllung der Weltmeere, Desertifikation weiter Gebiete, die für die Landwirtschaft ausfallen; Mangel an sauberem Trinkwasser für Hunderte Millionen Menschen, überhaupt die massive Urbanisierung des Lebens (schon heute leben etwa 60 % der Weltbevölkerung in Städten; der Sozialreport der Vereinten Nationen prognostiziert zum Jahr 2035 ca. 40 Megacities weltweit, in denen bis zu 35 Millionen Einwohner leben – das sind 1,4 Milliarden Menschen allein in den Megacities). Die Zukunft sieht düster aus – man muß es nüchtern sagen. Was haben wir als Theologie zu diesen gravierenden Veränderungen beizutragen?

In gewisser Hinsicht erst einmal wenig. Genauso wenig, wie übrigens auch die Philosophie, die bildenden Künste, die Musik- und Theaterwissenschaften und viele andere Disziplinen mehr. Es ist immer etwas peinlich, wenn Wissenschaften, die «das Ganze» des Menschen im Blick haben, sich ins Einzelne verlieren. Man ist als Theologe nicht der bessere Ökonom, wie man auch als Musiker, Tänzer, Maler oder Bildhauer nicht der bessere Chemiker oder Mediziner ist. Und doch laufen gerade die Natur- und die Wirtschaftswissenschaften, deren Stärke es ist, den Blick auf das einzelne Problem zu richten, Gefahr, nicht mehr recht zu wissen, warum man tut, was man tut. Und so kommt es zu dem, was kommt:

Alle wollen gut leben, also braucht es das Wachstum unserer Wirtschaft – so die Ökonomen. Um ein gutes Wirtschaftswachstum zu erreichen, braucht es technische Innovationen. Um technische Innovationen durchzusetzen, braucht es internationale Kooperation. Um internationale Kooperation zu erreichen, müssen die Kommunikationsprozesse beschleunigt und die Welthandelswege verkürzt werden usw. usf. Man sieht, wie diese Art von Weltwahrnehmung uns in einen permanenten Aggressionsmodus versetzt. «Wir brauchen mehr Wachstum!», «Der Wachstumsmotor muß wieder in Gang kommen!», «Wir wollen aus der Krise herauswachsen» – solche Sätze hört man nicht nur bei wirtschaftsliberalen Politikern, sondern längst auch bei den GRÜNEN. Was dabei übersehen wird, ist die simple Tatsache, daß der Markt selber keine Moral- und Wertvorstellungen hervorbringt, die als Grundlage für einen humanen Umgang aller mit allen dienen könnte. Und so droht nicht nur der persönliche, es droht auf Dauer der kollektive Burn-Out – die entsprechenden Zahlen konnte man schon 1972 im Bericht des «Club of Rome» und 1980 in dem Rapport «Global 2000» der damaligen US-Amerikanischen Regierung lesen. Passiert ist seitdem fast nichts, und wenn, dann wie oft in die falsche Richtung.

Vielleicht könnte hier nun doch eine Besinnung auf die vielen sozialen Traditionen, die in der Menschheitsgeschichte immer auch religiös konnotiert waren, den Horizont weiten – und zwar im Verbund mit den erwähnten Disziplinen Kunst und Musik, Bildhauerei, Theater und Literatur usf. Der szientistische, ausschließlich «fortschrittsorientierte» ökonomische Blick auf die Welt wirkt ja zuletzt ähnlich bornierend wie eine totalitäre Religion. Ist der Kapitalismus nicht längst unsere Religion? Sind wir, die wir uns doch für aufgeklärt halten, über solchen Kinderkram nicht erhaben?! Nicht zufällig sprach schon in den frühen 1990er Jahren Jürgen Habermas von der «entgleisenden Moderne». Das großartige Projekt «Aufklärung» war vielleicht dann doch zu kurz gedacht.

Der Soziologe Hartmut Rosa von der Universität Jena (er war übrigens vor drei Jahren auf den Theologischen Studientagen in Fribourg zu Gast) hat hierzu kürzlich beim Würzburger Diözesanempfang einen eindrücklichen Vortrag gehalten mit dem provozierenden Titel: «Demokratie braucht Religion». Das kleine Büchlein bricht gerade alle Verkaufsrekorde. Rosa faßt hier die Ergebnisse seiner drei großen Publikationen der letzten Jahre prägnant zusammen: (i) die massiven Probleme einer Beschleunigungsgesellschaft, (ii) das Phänomen «Resonanz» als Grundlage gelingender gesellschaftlicher Beziehungen sowie (iii) seine Phänomenologie des Unverfügbaren. – Alle drei Bücher, soziologische Studien durch und durch, sind auf erstaunliche Weise theologie- und ästhetikaffin. Und sie machen Mut: „Viele Kirchenvertreter“, so Rosa, „haben den Glauben daran verloren, dass sie etwas zu sagen haben. Dabei verliert die Gesellschaft etwas ganz Wichtiges, wenn religiöse Haltungen verloren gehen.“ Eigentlich beschämend, daß man sich als Theologe eine solche Selbstverständlichkeit von einem Kollegen aus der Soziologie sagen lassen muß. Die Schriften von Hartmut Rosa seien deshalb nachdrücklich zur Lektüre empfohlen.[1]

 

[1] Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a.M. 12005 / 112016; ders., Resonanz. Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 12016 / 72017; ders., Unverfügbarkeit, Wien/Salzburg 12018; Berlin 72020. – Ders., Demokratie braucht Religion (mit einem Vorwort von Gregor Gysi), München 2022.