Publikationsdatum 14.09.2023

Das Wort des Dekans Joachim Negel - HS 2023/I


Liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät
Liebe Freundinnen und Freunde

Jetzt ist es also offiziell: „Die Schweiz ist keine Insel der Seligen“ – so der in Rom lehrende Jesuit Hans Zollner. Der Theologe und Psychotherapeut, langjähriges Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen, kommentiert mit diesem knappen Wort das Ergebnis der Pilotstudie „Zur Geschichte des sexuellen Mißbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts“. Diese Studie, durchgeführt von einem vierköpfigen Historikerteam der Universität Zürich und dort vor wenigen Tagen (am 12. September) der Öffentlichkeit vorgestellt, war möglich geworden durch eine im Dezember 2021 unterzeichnete Vereinbarung zwischen der Schweizer Bischofskonferenz, der Konferenz der Ordensgemeinschaften in der Schweiz sowie der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz auf der einen Seite und dem Historischen Seminar der Universität Zürich auf der anderen.[1] In dieser Vereinbarung war den Historikern seitens der kirchlichen Autoritäten selbständige Arbeit unabhängig von jeder kirchlichen Beeinflussung sowie freier Zugang zu allen nötigen Archiven zugesichert worden. Die Forschergruppe konnte sich darüber hinaus, wenn erwünscht, Expertisen von den sechs Mitgliedern eines Wissenschaftlichen Beirats holen, der der Pilotstudie zugeordnet war – darunter befanden sich auch zwei Mitglieder unserer Universität: Prof. Anne-Françoise Praz von der Philosophischen Fakultät (Département für Zeitgeschichte) sowie Prof. Astrid Kaptijn, Kanonistin am Département für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät.

Das Ergebnis dieses Schweizer Pilotprojektstudie unterscheidet sich nur wenig von den Erkenntnissen, die vergleichbare Studien in der französischen und der deut­schen Kirche ergeben haben[2]: Untersucht wurden im Zürcher Pilotprojekt etwas mehr als 1000 Fälle aus den Jahren 1950 bis ca. 2020 (das Dunkelfeld dürfte erheblich größer sein); die analysierten Fälle reichen von übergriffigem Verhalten bis hin zu handfester sexueller Gewalt. Die Täter sind ganz überwiegend Männer; zum allergrößten Teil handelt es sich um Kleriker oder Ordensleute. Und auch das Verhalten der verantwortlichen Bischöfe und Prälaten in den Schweizer Diözesen und Ordensleitungen ist denen in Deutschland und Frankreich vergleichbar: ein über Jahrzehnte sich hinziehendes Schließen der Augen vor den Fakten; vorrangiges Interesse nicht an den Opfern, sondern am guten Ruf der Kirche; interne Ermahnung des Täters und anschließendes Versetzen in eine andere Gemeinde oder Diözese, oft ohne diese über das Vorgefallene zu informieren.

Das alles ist seit Jahren bekannt, weshalb ich es nur knapp in Erinnerung rufe. Was ebenfalls bekannt ist, kirchlicherseits dann aber doch nur selten thematisiert wird, ist die Frage, welche Konsequenzen organisationeller, institutioneller und theologischer Art sich aus diesem moralischen Desaster ergeben müßten. Denn so sehr es Mißbrauch auf allen gesellschaftlichen Ebenen gibt (nicht ohne Grund fällt die kirchliche Mißbrauchsdebatte mit der #MeToo-Debatte zeitlich zusammen), so sind es im Raum der Kirche die sehr spezifischen, katholischen Rahmenbedingungen, die dieses menschliche und moralische Desaster ermöglicht haben.

Und da steht zuvörderst die institutionelle Gestalt der Kirche in der Kritik: Solange die Bischöfe für die Belange in ihren Diözesen die Machtbefugnisse eines absolutistischen Fürsten innehaben; solange kirchlicherseits keine Gewaltenteilung herrscht, vielmehr Legislative, Exekutive und Judikative in einer Hand liegen, solange wird es zuletzt vom Willen einer einzigen Person, nämlich dem Bischof, abhängen, ob ein übergriffiger Geistlicher gestoppt und von Kindern bzw. Jugendlichen ferngehalten wird. Wie aber will ein Bischof in nüchterner Distanz zu seinen Priestern stehen? Das ist kaum oder doch nur selten möglich, dazu kennt man sich zu sehr, ist im sakramentalen Selbstverständnis einander verbunden, war vielleicht zusammen im Priesterseminar, ist womöglich miteinander befreundet – es fehlt schlicht die professionelle Distanz. Mit anderen Worten: In einer komplexen Welt wie der unsrigen ist absolutistische Machtakkumulierung in hohem Maße kontraproduktiv.

Das gilt auf allen Ebenen, nicht nur auf der der Diözesen und Orden, sondern auch gesamtkirchlich. Wie schwer tut sich Papst Franziskus, Bischöfe und Kardinäle, die er persönlich schätzt, im Fall von eklatantem Versagen zu entlassen. Hier wiederholt sich, was auf Diözesanebene zehntausendfach passiert ist: Man kennt sich, ist miteinander befreundet, und so ist die Versuchung groß, ein Auge (oder auch zwei) zuzudrücken. Kurzum: Die vertikale Struktur der römischen Kirche, so eindrucksvoll sie in mancherlei Hinsicht auch sein mag, erweist sich angesichts des Mißbrauchsskandals als hoch dysfunktional.

Das, liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät, liebe Freundinnen und Freunde, sind in etwa die Gedanken, die mir vorgestern einmal mehr kamen, als ich über das Internet die Vorstellung der Zürcher Pilotstudie verfolgte. Es sind keine so schönen Gedanken; am Beginn eines Semesters hat man eigentlich Lust, erfreulichere Dinge zu sagen. Aber das ist vielleicht gar nicht Sinn und Zweck eines « Mot du doyen ». Es hat vielmehr an die elementare Aufgabe einer Theologischen Fakultät zu erinnern : im Vertrauen auf Gott in größtmöglicher Nüchternheit die Dinge beim Namen zu nennen und dann an ihrer heilenden Veränderung mitzuarbeiten. Wie heißt es doch im Johannesevangelium : « Die Wahrheit wird euch frei machen » ! (Joh 8,32) Dieses Wort ist von großartiger Kraft. Es besagt nichts Geringeres als dies : Eine Kirche, die den Mut hätte, in ihre eigenen Abgründe zu schauen, wäre am Ende eine, die auch für die Gesellschaft als ganze von hohem Nutzen sein könnte. Denn sie würde durch die Aufarbeitung ihrer eigenen Unmöglichkeiten helfen, daß auch dort, wo in unserer sich aufgeklärt wähnenden Gesellschaft Fragwürdiges am Werk ist, dieses leichter erkannt wird. Was aber wäre dies anderes als Bekehrung zu den ureigenen Ursprüngen : « Bekehrt Euch ! » (Mk 1,15) Kurzum : « Versucht, im Vetrauen auf Christus wahrhaftig zu werden, glaubwürdig und gerecht ». An nichts anderem als dies wird sich nicht nur die Kirche als ganze, sondern auch eine Theologische Fakultät messen lassen müssen. Eine überaus schwere, anspruchsvolle Aufgabe. Aber auch eine schöne, denn sie macht frei.

In diesem Sinne grüße ich Sie zum Beginn dieses neuen Akademischen Jahres. Ihr Joachim Negel 

 

[1]     Die Studie ist unter folgendem Link abrufbar

[2]     Für die Katholische Kirche in Deutschland ist das unter anderem die großangelegte, 2018 veröffentlichte MHG-Studie („MHG“ steht für „Mannheim, Heidelberg, Gießen“ – von diesen drei Universitäten kamen die für die Studie verantwortlichen Historiker, Kriminologen und Psychologen); für die Katholische Kirche in Frankreich ist das der 2021 veröffentlichte „Rapport Sauvé“.