Publikationsdatum 17.04.2023

Das Wort des Dekans Joachim Negel - FS 2023/II


Liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät
Liebe Freundinnen und Freunde

Alle Jahre wieder geraten wir vor jenes Fest, das alles vom Kopf auf die Füße stellt: Ostern! Ich gestehe, daß ich jedes Mal neu darum ringe, wie man das schlechterdings Unglaubliche, Grundstürzende, alles Verwandelnde predigen soll. Ist diese Botschaft nicht zu groß für uns? Überfordert sie uns nicht? Stellen wir uns nur einmal vor, es stimmte, was wir da bekennen in dem Jubelruf: „Christ ist erstanden! Gott hat ihn von den Wehen des Todes befreit, denn es war unmöglich, daß er vom Tod festgehalten wurde.“ (Apg 2,24) Gerät da nicht alles durcheinander? Worauf denn soll man in dieser Welt noch vertrauen, wenn selbst der Tod nicht mehr sicher ist? – Stellen wir uns desweiteren vor, es stimm­te, was der Apostel Paulus seinen Leuten in Korinth zuruft: „Ist jemand in Christus, dann ist er eine neue Schöpfung“ (2Kor 5,17); oder jener unbekannte Paulusschüler, dem wir den Brief an die Kolosser verdanken: „Ihr seid mit Christus auferweckt […], seid neue Menschen, umgestaltet nach dem Bild eures Schöpfers.“ (Kol 3,1a.10b) „Und deswegen könnt ihr leben als neue Menschen“ jenseits des kleinlichen Rechthabens, jenseits auch aller Angst. (Vgl. Eph 4,17-24) Müßte es uns nicht ergehen, wie den Frauen am Grab, denen die Botschaft des Engels Schrecken und Entsetzen einjagt, einfach weil sie so unglaublich ist? (Mk 16,8)

In der Tat, die Osterbotschaft ist zu groß für uns. Denn hier wird alles in rechte Lot gesetzt. Uns werden, wie dem Blindgeborenen, die Augen geöffnet (vgl. Joh 9). Uns wird gleichsam der Star gestochen, damit wir endlich sehen und begreifen, daß wir nicht für den Tod geschaffen sind, sondern für das Leben – heute und hier und überhaupt alle Tage unseres Lebens, immer und ewig.

Mit einem Mal merkt man: Im Osterfest ist ein im Wortsinn „an-archischer“ Impuls am Werk: Die Todesmächte, die das letzte Wort zu haben schienen, die politischen der Putins und Xi Jinpings, die psychischen der verdrängten Ängste und Traumata, die sozialen der deprimierenden Armut und der schreienden Ungerechtigkeit, seien definitiv entmachtet. „Tod, wo ist dein Stachel?“, jubelt Paulus. Wir brauchten keine Angst mehr zu haben um uns und unsere Lieben. Wir könnten Menschen sein, denen das Lachen der Kinder Gottes anzusehen ist. Wir könnten freigiebig sein, freundlich und gut. Welche Lust, so zu leben! Welche Freude, welche Labsal!

Jedoch, kaum in solchem Enthusiasmus angekommen, drängt sich das große „Aber“ in den Vordergrund. Ist das alles nicht Utopie?! Ein zwar schönes, aber haltloses Märchen? Denn was tot ist, ist tot! Und was gewalttätig, gewalt­tätig! Wir sind schließlich Realisten. Und den Realitäten dieser Welt gilt es tapfer ins Auge zu schauen, denn an ihnen ist nichts zu ändern.

Marie-Luise Kaschnitz (1901 - 1974), diese gerade in ihrer Schüchternheit große Dichterin, hatte mit den Tapferkeiten dieser Welt wenig im Sinn. Unter ihren Auferstehungsgedichten gibt es eines, das den Titel trägt „Nicht mutig“; er könnte auch lauten: „Nicht nüchtern“, „Nicht realistisch“, „Nicht mannhaft“. Da heißt es:

Die Mutigen wissen
Dass sie nicht auferstehen
Dass kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Dass sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Dass nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Kein Gericht
Ich
Bin nicht mutig

Das Gedicht formuliert zwei Lebensentwürfe. Zunächst den Entwurf derer, für die Ostern eine Illusion ist. Mit dem Tod ist alles aus! Wer dem widersprechen wollte, trüge die Beweislast. In der Tat: Wie will man gegen die Endlichkeit dieses Lebens, seine Vergeblichkeit und das Grab argumentieren? Ostern als „Wishful thinking“. Einer solchen Nüchternheit, so das Gedicht, liegt ein „Wissen“ zugrunde: „Die Mutigen wissen.“ Warum aber sind sie, die wissen, Mutige?

Der entgegengesetzte Entwurf ist sich selber so unsicher, daß er sich nur indirekt zu sehen gibt, nämlich aus der Hinterfragung der Position der Mutigen; er erscheint ganz am Ende des Gedichts in einem einzigen Satz: „Ich – bin nicht mutig.“ Gibt es Ostern vielleicht doch? Und mit ihm die Errettung unseres Lebens ins Licht göttlichen Erkennens?

Sieht man genauer hin, so zeigt sich freilich, daß in dem „Ich – bin nicht mutig“ eine verborgene Kritik an den „Mutigen“ steckt. Offenbar redet das Gedicht gar nicht so hochachtungsvoll von ihnen, den „Realisten“, wie es auf den ersten Blick scheint. Man könnte das Untergründige des Gedichts vielleicht folgendermaßen formulieren: Die Skeptiker, die so genau wissen, dass Ostern eine Illusion ist, können sich ihrer Sache auch nicht sicher sein. Steckt in dem Gedicht nicht gar ein Hauch von Hohn auf die „Mutigen“, „Nüchternen“, „Realistischen“, weil sie mit ihrem „Wissen“ etwas behaupten, von dem man nichts wissen kann?

Hier angelangt, liebe Freundinnen und Freunde, macht sich noch einmal die Osterbotschaft bemerkbar. Denn bei Licht besehen, rührt sie uns ja deswegen so an, weil wir in ihr unsere besten Intuitionen und Wünsche zur Erfüllung gebracht sehen. Unser endliches Leben wäre zuletzt dann doch nicht vergeblich. Es könnte hingelangen zur Fülle. (Vgl. Joh 15,15)

Freilich – wo man die Zumutung des Glaubens abgetan hat (und Ostern zu glauben, ist eine Zumutung), da verliert die Osterbotschaft an Kraft. Und die Welt bleibt, wie sie ist – unverwandelt, sterblich, tödlich. Beten wir darum, Ostern nicht nur glauben zu können, sondern auch zu tun.

Es grüßt Sie herzlich
Ihr Joachim Negel