Publikationsdatum 17.02.2023

Das Wort des Dekans, Joachim Negel - FS 2023/I


Es gäbe reichlich Themen für ein „Wort des Dekans“ zu Beginn dieses Semesters: Der russische Ukrainekrieg geht in sein zweites Jahr, und ein Ende ist nicht abzusehen; in der östlichen Türkei hat ein Jahrhundert-Erdbeben älteste Regionen (darunter das antike Antiochia) verwüstet und Hunderttausenden das Leben ruiniert; und dann wurde am 5. Januar, dem Gedenktag des hl. Symeon Stylites, im Petersdom zu Rom der Theologe und „Papa Emeritus“ Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zu Grabe getragen. – Obgleich alle drei Ereignisse gleichermaßen zu denken geben, sei für das heutige „mot du doyen“ das letztere Ereignis bedacht. Was bedeutet dieser Abschied für Theologie und Kirche? Und was gibt er im Blick auf Kultur, Gesellschaft und Religion zu denken?

Zweifelsohne war Joseph Ratzinger ein Mann von enormer Belesenheit, hoher analytischer Präzision und beeindruckender Eloquenz. Wer mit ihm im Gespräch war, hatte seine Frage noch nicht zuende gebracht, da erhielt er schon eine gestochen scharfe, druckreife Antwort, und dies nicht nur auf Deutsch, der Muttersprache Ratzingers, sondern auch auf Italienisch, Französisch, Englisch, wenn nötig auch auf Spanisch, Portugiesisch oder Latein. Beeindruckend die schwebende Eleganz vieler seiner Texte; sie kreisen allesamt um jene immer nur annäherungsweise zu beschreibende, nie aber definitiv zu fixierende Mitte des christlichen Glaubens: das Geheimnis des in Jesus von Nazareth sich offenbarenden Logos, jenes Wortes, das „im Anfang“ ist („in principio“) und in welchem alles seinen letzten Grund und Halt findet: Wahrheit und Vernunft, Kosmos und Geschichte, Mensch, Kirche, Gesellschaft. Man kann Joseph Ratzinger im besten Sinne des Wortes als einen „Geistlichen Schriftsteller“ bezeichnen (was man weißgott nicht von jedem Theologen sagen kann).

Das Lebensthema des verstorbenen „Papa emeritus“ war der Zusammenklang von Glaube und Vernunft – das eine hilft dem anderen auf, der Glaube erhellt die Vernunft, und die Vernunft reinigt den Glauben, ein wechselseitiges Gründungsverhältnis, das schöpfungs- wie inkarnationstheologisch ausbuchstabiert werden muß: In der Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit ihrer selbst stößt die Vernunft auf den unvordenklichen Logos, der in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist. Für den ehemaligen Papst galt unverrückbar, was er in seiner Regensburger Vorlesung aus dem Jahr 2006 wie folgt formuliert hatte: Unsere Vernunft, unser Sinn für das Wahre und Gute sind ein wirklicher Spiegel Gottes.“ Und deshalb gilt: „Nicht vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.“ In diesem Sinne kann man Benedikt XVI. mit Fug und Recht als den „Letzten Platoniker Europas“ bezeichnen. Darin besteht seine unbezweifelbare Größe; darin liegt aber auch ein gerütteltes Maß an Tragik. Denn natürlich stellt sich die Frage, ob es diesen reinen und klaren Begriff der Vernunft überhaupt gibt. Die Griechen, auf die Benedikt sich immer wieder berief, kennen ja nicht nur die klare, unwiderlegliche Vernunft; sie kennen auch den Mythos, die Tragödie, die Poesie und den Gesang, die Geschichtsschreibung, die vorsokratische und die skeptische Philosophie. Gerade Platon, der große Referenzautor Benedikts, wußte wie nur wenige um das Dämonische, Widersprüchliche der Vernunft. Und ist nicht genau dieses Wissen auch eine der zentralen Einsichten der Moderne? Weiß nicht der späte Kant vom Rätsel des Bösen, des Vorwillentlichen im Willen? Haben nicht die „Meister des Verdachts“, insbesondere Nietzsche und Freud, die Grammatik der Triebe, Träume, Traumata beschrieben, ihre kaum zu fassenden Dynamiken? Und spricht die Theologie nicht beständig vom dunklen Geheimnis Gottes, das zu erhellen dem Menschen kaum gelingt?

Wie vieles wurde nicht von Joseph Ratzinger ausgeblendet (seltsam für einen von Augustinus herkommenden Denker) – das Unklare, Abgründige, das Mythische, Abseitige, das Verfemte, das eben auch unsere alltäglichen, vermeintlich so vernünftigen Entscheidungen noch durchzieht, uns stimuliert und lockt, uns aber auch zum Opfer unserer selbst werden läßt, gerade auch da, wo wir meinen, rational und begründet zu handeln. Ob das der Grund ist, daß der emeritierte Papst nicht nur fassungslos war angesichts der römischen Intrigen, die ihn umgaben, sondern auch hilflos, schwächlich und zuletzt peinlich unvermögend gegenüber dem Abgrund an Mißbrauch in seiner nächsten Umgebung, den er doch selber mitzuverantworten hatte?

Wenn uns dieses zehn Jahre über seine Zeit hinaus andauernde Pontifikat etwas lehrt, dann neben vielem anderen sicherlich auch dies: Die reine, klare Vernunft, die sich selber durchsichtig ist und sich deshalb völlig im Griff hat, ist ein Konstrukt. Mehr noch, wo die Vernunft (gerade, wo sie sich vom Glauben geheilt und erleuchtet glaubt) nicht noch einmal kritisch zu sich selbst in Distanz tritt, läuft sie Gefahr, sich gegen ihre eigenen besten Intentionen selbst ein Bein zu stellen. Insofern gibt uns der außergewöhnliche Denker Joseph Ratzinger auch weiterhin viel zu denken – im Großen wie im Fragwürdigen. Aber ist das nicht zuletzt aller unser Schicksal?