Publikationsdatum 30.09.2022

Das Wort des Dekans, Joachim Negel - HS 2022/I


Liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät
Liebe Freunde, liebe Freundinnen

Als neuer Dekan für die kommenden drei Jahre grüße ich Sie zu Beginn des Akademischen Jahres 2022/23 und danke Ihnen für Ihre Verbundenheit mit unserer Fakultät. Ich bitte herzlich um Ihr Wohlwollen und um Ihre Unterstützung in den kommenden Semestern.

„Wort des Dekans“ –: Wie soll ich es beginnen, dieses erste „mot du doyen“, das Monat für Monat zu schreiben mir in den kommenden drei Jahren aufgegeben ist? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Denn die letzten Wochen und Monate haben uns alle spüren lassen, in wie schwierigen Zeiten wir leben, wie sehr uns die gewohnten Selbstverständlichkeiten abhanden kommen.

Neben den großen Migrationsströmen von Flüchtlingen aus aller Welt, die uns daran erinnern, daß auch Europa und die Schweiz einmal Auswandererländer waren, sind es die Klimakatastrophe und der unsägliche Krieg Rußlands gegen die Ukraine, die uns die Zukunft verdunkeln. War da nicht einmal Hoffnung, wenigstens in Europa könnte es nach dem Desaster zweier Weltkriege Frieden geben? Gegründet in einer multi-nationalen Ordnung, konsensbasiert, weltoffen und frei, unter dem Horizont einer demokratisch prosperierenden Gesellschaft? Statt dessen gewinnen seit Jahren die Nationalismen Oberwasser, autoritäre Führer wie Putin, Orban, Erdogan und Trump erfreuen sich großer Beliebtheit; Marine Le Pen in Frankreich, Giorgia Meloni in Italien und Alice Weidel in Deutschland brauchen ihre offenen Sympathien für den Imperialismus, Stalinismus und Faschismus nicht mehr zu verstecken.

Und die Kirchen? Als Teil ihrer Gesellschaften sind sie nicht selten mitten in diese Ansichten verstrickt oder tun sich doch zumindest schwer, hier eindeutig und kreativ Distanz zu markieren. Ja, das Evangelium Jesu Christi ist auch den Kirchen und den Christen nicht selten peinlich. Denn es fordert uns heraus zu Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, zu Demut und Starkmut zugleich, zu einer Haltung der Selbstvergessenheit und der Güte. Aber wann wären wir wahrhaftig? Wann gut? Wann demütig und mutig zugleich?

Und so stellt sich ganz von selbst die Frage, was in dieser Gemengelage von Propaganda, Chauvinismus, Nationalismus und Krieg, aber auch von zerstörerischem Weltverbrauch und einer Natur, die angesichts der Schändungen, die wir ihr angetan haben, zurückschlägt, unsere Aufgabe als Theologische Fakultät sein sollte, könnte, müßte.

Vielleicht, daß wir uns zunächst und vor allem von den eigenen liebgewordenen Dogmatismen verabschieden. Jeder Mensch betreibt seinen kleinen Dogmatismus, jeder ist auf die eine oder andere Weise verliebt in seinen Gartenzwerg, den er mit der Wahrheit des Heiligen Geistes verwechselt. Christenmenschen sind da selten anders als der Rest der Welt.

Sodann wären Allianzen zu schmieden. Denn natürlich wird nicht nur in der Theologie nach der Wahrheit gefragt, sondern genauso in der Philosophie, in den Naturwissenschaften, in der Kunst und den Literatur- und Geschichtswissenschaften, in der Musik usw. usf. Wir haben als Theologen, auch und gerade als konfessionell gebundene Theologen, die Wahrheit nicht gepachtet; wir sind Teil der einen Menschenfamilie, wir sind Teil einer scientific community, die über allen Wissenschaftspositivismus hinaus zuletzt die Frage nach dem guten Leben stellt. Zum guten Leben gehören immer auch die anderen. Man kann nicht alleine glücklich sein.

Was wäre das für eine Theologie, die diesen Sprung wagte: hinaus zu jenen, die nicht die letzte Antwort wissen, die aber gegenüber den positivistischen, ökonomistischen oder nationalistischen Rechthabern in der Lage sind, eine Frage mehr zu stellen?! Es wäre eine Theologie, die menschengemäß deswegen ist, weil sie Maß nimmt an jenem Gott, der sich nicht zu schade war, Mensch zu werden. Eine solche Theologie hätte etwas zu sagen; zunächst sich selbst, aber dann auch den anderen, und zwar, weil sie sich etwas gesagt sein läßt. Es wäre eine Theologie, die sich mit den anderen auf die Suche nach jener Wahrheit begibt, die frei macht. (Vgl. Joh 8,32)

Ich wünsche Ihnen und mir ein gesegnetes, erfolgreiches, aber auch anstrengendes, weil der Wahrheit nachspürendes Akademisches Jahr 2022/23.

Joachim Negel
Dekan