Publikationsdatum 03.11.2020

Das Wort des Dekans, Mariano Delgado - HP 2020/II


Vertrauen in den Menschen

Liebe Freunde, liebe Freundinnen und liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät!

In seiner Ansprache zum Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils am 7.12.1965 hat Paul VI. die Kirche ermahnt, „Vertrauen in den Menschen“ zu haben. Das Konzil war sich der Ambivalenz des Menschen in der Geschichte bewusst und hat in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (Nr. 12-22) sein Doppelgesicht betrachtet, d.h. „Elend und Grösse des Menschen“. Aber es hat, so Paul VI. weiter, willentlich eine sehr optimistische Einstellung gewählt und eher die glückliche als die unglückliche Seite des Menschen betont. Ihm war wichtig jene anthropologische Linie hervorzuheben, die den Menschen als soziales und lernfähiges Gemeinschaftswesen versteht. Der Mensch ist nicht des Menschen Wolf, sondern Freund: „homo homini amicus“ sagten die Theologen Salamancas im 16. Jahrhundert angesichts der Entdeckung neuer Völker. Und der Mensch ist auch zur Freundlichkeit mit einem Gott berufen, der uns in Jesus Christus seine „Güte und Menschenliebe“ gezeigt hat (Tit 3,4).

Christen und Christinnen sind eingeladen, sich für die Verbreitung dieser „guten Nachricht“ einzusetzen. Aufgrund der conditio humana tragen wir diesen Schatz „in zerbrechlichen Gefässen“, aber „so wird deutlich, dass das Übermass der Kraft von Gott und nicht von uns kommt“ (2 Kor 4,7) – heisst es bekanntlich beim Apostel Paulus. Und er fügt hinzu, dass er bei dieser Arbeit, „Gott zur Ehre“, nicht müde wird: „wenn auch unser äusserer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert“ (2 Kor 4,15-16).

Jede gute Theologie steht im Dienst der Evangelisierung, der Verkündigung. Dazu ist heute nicht die Betonung eines Heilsexklusivismus (Mk 16,16), sondern die Rückbesinnung auf den Gnadenuniversalismus biblischer Tradition nötig: Die Weisheit des Herrn „entfaltet ihre Kraft von einem Ende zum andern und durchwaltet voll Güte das All“ (Weish 8,1) „Kommt alle zu mir … Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht“ (Mt 11,28-30). „Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Wer durstig ist, den werde ich unentgeltlich aus der Quelle trinken lassen, aus der das Wasser des Lebens strömt“ (Offb 21,6). Der doctor mysticus Johannes vom Kreuz war sich sicher, dass diese Quelle, die göttliche Gnade, nicht aufhört zu entspringen und fort zu fliessen, „auch wenn es Nacht ist“; dass ihre Fluten „gewaltig strömen“ und „Hölle, Himmel, Völker“ bewässern, „auch wenn es Nacht ist“; dass alle Kreaturen aus ihr trinken, „auch im Dunkeln“; dass Gott schliesslich „wie die Quelle“ ist, „aus der sich ein jeder so viel schöpft, wie sein Gefäss fasst“.

Wenn dies so ist, dann hat jeder Mensch eine Gotteserfahrung. Daher wäre die erste Aufgabe der Seelsorge die „Erfahrungs-Anamnese“, d. h. die Gotteserfahrung auszugraben, die in die Biographie eines jeden Menschen, „in seine Hoffnungs- und Leidensgeschichte … tief eingegraben“ ist, wie der Synodenbeschluss „Unsere Hoffnung“ der Würzburger Synode der deutschen Bistümer 1975 festgehalten hat. Johannes vom Kreuz drückte es auf dem Boden der klassischen Theologie anders aus. Er sagte, „dass Gott in jeglicher Menschenseele, und sei es die des grössten Sünders der Welt, wesenhaft wohnt und gegenwärtig ist“. Dann ist bei den Seelsorgern und Seelsorgerinnen eine mystagogische Dialogkultur nötig (vermittelt sie unsere Theologie? Reden wir nicht zu viel und hören zu wenig zu?), wie sie etwa der spanische Dichter und Agnostiker Antonio Machado auf den Punkt gebracht hat: „Um einen Dialog zu führen, fragt zuerst: und dann … hört auch gut zu“. Dieser Dialog ist nicht nur im Hinblick auf die promotio humana und die Zusammenarbeit mit allen Menschen guten Willens beim Aufbau einer besseren Welt zu führen, sondern auch zur Bewusstmachung der göttlichen Berufung des Menschen; dann auch, um den christlichen Glauben überzeugend als Übergang von der wesenhaften Gotteinung anzubieten, die mit Schöpfung und Menschwerdung allen Menschen gegeben ist, zur Gleichgestaltung des Menschen mit Gott in Liebe durch die bewusste Hinwendung zu ihm. Bei der Evangelisierung geht es darum, den Menschen den „unbekannten Gott“ (Apg 17,23) klar vorzustellen, den Gott, der uns in Jesus sein wahres Antlitz gezeigt hat: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm“ (1 Joh 4,16).

Daher sollen Theologen und Theologinnen, Seelsorger und Seelsorgerinnen „Betende“ sein. Denn das Gebet – verstanden mit Teresa von Ávila als Schule der Gotteserkenntnis und der Selbsterkenntnis, als Freundschaftspflege mit dem Herrn und als persönliche Betrachtung des „pro me“ seiner Menschwerdung und Erlösungstat – ist der Weg zur Christusförmigkeit, damit wir „Tag für Tag“ innerlich erneuert werden. Dabei ist der Aktivismus eine grosse Versuchung. Nicht zuletzt den apostolischen Aktivismus der Missionsorden in der Frühen Neuzeit, die „die Welt mit ihren Predigten und äusseren Werken umfassen wollen“, hatte der scharfe Zeitdiagnostiker Johannes vom Kreuz um 1590 im Blick, als er zu einer intensiveren Gebets- und Kontemplationspraxis anmahnte: „Andernfalls ist alles ein lautes Hämmern, das kaum etwas nützt, manchmal sogar gar nichts und oftmals Schaden anrichtet. Gott bewahre, dass das Salz schal wird (Mt 5,13); denn auch wenn es äusserlich noch wie Salz aussieht, wird es nichts nutzen. Man weiss ja, dass man gute Werke nur mit Gottes Hilfe bewirken kann.“

Gebet und Kontemplation verwandeln „eschatologische Ungeduld“ und „Bekehrungseifer“ in „Gelassenheit“. Man weiss dann, dass wir nur Werkzeuge, ja „unnütze Diener“ (Lk 17,10) sind, während Gott der Haupthandelnde ist, der den Menschen, wie Johannes vom Kreuz wusste, geheimnisvoll „belehrt“ und sein Werk in jedem von uns vollendet, „wie und wann er will“. Gott „führt jeden auf unterschiedlichen Wegen“ zu sich, er formt unaufhörlich das Innere des Menschen zu seinem Bild und Gleichnis um und teilt ihm so seinen Geist und seine Weisheit mit. Die geheime Arbeit Gottes am Menschen und die verschiedenen Wege zu ihm zu gelangen vergleicht Johannes vom Kreuz mit einer Strasse durchs Meer, „deren Pfade und Spuren man nicht verfolgen kann“. In Gebet und Kontemplation geübte Seelsorger und Seelsorgerinnen werden bemüht sein, dieser Arbeit Gottes am Menschen nicht im Wege zu stehen, sondern sie klug und diskret zu begleiten.

Seelsorger und Seelsorgerinnen sollten heute die dreifache Weichenstellung bedenken, die Paul VI. in der oben zitierten Ansprache stellte, und die uns Papst Franziskus immer wieder in Erinnerung ruft:

  • Zum einen, dass wir „Vertrauen in den Menschen“ haben sollten, der trotz der Ambivalenz seiner Natur von Anfang an eine göttliche Berufung in sich trägt, die durch die Menschwerdung Jesu bestätigt und potenziert wurde. Diese Berufung ist aber bei vielen Menschen verschüttet und sollte bei der Evangelisierung zu Bewusstsein kommen.
  • Zum anderen, dass die Kirche heute in Bezug auf den Menschen nicht den Weg der dogmatischen Lehren und Verurteilungen gewählt hat, sondern den des „Dialogs mit ihm“, und zwar „mit der sanften und freundlichen Stimme der pastoralen Nächstenliebe“, um dabei „alle zu hören und zu verstehen“, sowie mit dem Zweck, „dem Menschen zu dienen“. Denn die Kirche hat sich mit dem Konzil als „die Dienerin der Menschheit“ (l’ancella dell’umanità) verstanden. Diese dienende Absicht habe beim Konzil, so Paul VI. weiter, „eine zentrale Rolle“ gespielt – auch und gerade im Hinblick auf „die anthropozentrische Richtung der modernen Kultur“.
  • Und schliesslich, dass Gotteserkenntnis und Menschenerkenntnis, Gottesliebe und Menschenliebe untrennbar verbunden sind. Daher sagte Paul VI., dass man Gott kennen muss, „um den Menschen, den wahren Menschen, den ganzheitlichen Menschen, zu kennen“ und Christi-Antlitz in ihm zu erkennen (Mt 25,40) – und er fügte hinzu: „um Gott zu kennen, muss man den Menschen kennen“, ja, „um Gott zu lieben, muss man den Menschen lieben“.

Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Mariano Delgado, Dekan