Publikationsdatum 21.09.2020

Das Wort des Dekans, Mariano Delgado - HS 2020/I


„Als ich ein Kind war…“ (1 Kor 13,11) – Lob des Theologiestudiums

Liebe Freunde, liebe Freundinnen und liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät!

„Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war“ (1 Kor 13,11). Lässt sich diese Lebensweisheit auf das Studium der Theologie übertragen? Nur bedingt, meine ich.

Wenn wir jemanden im Winter besuchen (und angesichts der Dauerkrise von Identität und Relevanz leben wir in der Kirche in einer „winterlichen Zeit“), legen wir den Mantel ab. Analog dazu sollten wir, wenn wir das Haus der Theologie besuchen, den uns wärmenden Mantel des kindlichen Glaubens, des Glaubens der ersten Naivität (s. die hier abgebildete Darstellung von Himmelfahrt in der Kathedrale Toledos um 1500) an die Garderobe hängen. Denn das Studium der Theologie an der „Universitas“ hat mit der „Anstrengung des Begriffs“ (Karl Rahner) zu tun, mit der Hinterfragung aller Selbstverständlichkeiten, mit dem Feuer der Kritik, das wir nicht den Religionskritikern überlassen dürfen, sondern selbst zu praktizieren haben. Die Bibel ist nach der „mosaischen Unterscheidung“ (Jan Assmann) zwischen dem einen Gott und den vielen Göttern von der genuinen Religionskritik der ethisch-monotheistischen Revolution geprägt. Sie stellt falsche Gottesbilder in Frage genauso wie eine fehlgeleitete Religiosität, die sich in Riten verliert und das Wesentliche, das Messianische übersieht: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“ (Mt 12,7; Hos 6,6), „Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer… Blinde Führer seid ihr…“ (Mt 23,13-33).

Die Theologie führt diese biblische, ja, „jesuanische“ Religionskritik angesichts der Anfechtungen der philosophischen, historischen und juristischen Vernunft wie des Einspruchs anderer Religionen weiter. Sie hat die „Kunst der Infragestellung“ mit einem wissenschaftlichen Ernst zu praktizieren:

  • Das fängt bei der Entmythologisierung mancher biblischer Berichte und Aussagen an und betrifft auch den dogmatischen Kern des christlichen Glaubens: Wie kann man sagen, dass Gott einer und zugleich dreifaltig ist? Was ist das für eine neue Lehre? Warum leuchtet sie dann jüdischen und muslimischen Gläubigen und vielen redlichen Menschen nicht ein? Was bedeutet „Menschwerdung“ Gottes bzw. des Logos? Wie kann man den apodiktisch-exklusiven Schluss des Markusevangeliums „Wer glaubt und sich taufen lässt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden“ (Mk 16,16) heute verstehen, wenn man den allgemeinen Heilswillen Gottes, den christologischen Inklusivismus des Zweiten Vatikanischen Konzils und dessen Aussage, dass „alle“ durch die Barmherzigkeit Gottes und Christi Mittlerschaft gerettet werden können, theologisch bedenkt?
  • Es betrifft genauso die Kirchengeschichte: Warum ist in der Papstgeschichte der „Wille zur Macht“ so massiv präsent? Warum haben Christen untereinander so fürchterliche Kriege geführt? Warum gibt es in der Kirchengeschichte so viel Intoleranz sowie die Verquickung von Mission und westlichem Kolonialismus bei der Eroberung der aussereuropäischen Welt, wenn das Evangelium doch eine universale „Botschaft der Freiheit und eine Kraft zur Befreiung“ (Instruktion Libertatis nuntiusAAS 76, 1984, 876) ist?
  • Diese „Infragestellung“ macht auch nicht Halt vor der christlichen Ethik: Warum hat man oft Menschen schwere Lasten aufgebürdet, die Theologen und Geistliche nicht zu tragen bereit waren? Warum haben viele von ihnen Wasser gepredigt bzw. gelehrt und Wein getrunken? Warum hat die Kirche so unermessliche Reichtümer angehäuft, wo es doch heisst, dass man lieber „Schätze im Himmel“ (Mt 6,20) sammeln sollte?
  • Und der selbstkritische Blick vergisst ebenso wenig die theologische und soziale Gestalt der Kirche: Warum und mit welchem Grund gibt es im Volk Gottes zwei verschiedene Stände, Klerus und Laien, und wie verhalten sie sich angesichts der gleichmachenden Taufe zueinander, wenn man die Zwei-Stände-Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr so wie im Mittelalter oder beim Trienter Konzil verstehen soll? Hat man aus dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen wirklich die nötigen theologischen Schlüsse gezogen? Man muss doch nicht die Sicht des „Protestantismus“ teilen, um zu merken, dass hier bei der Konzilsrezeption noch Klärungsbedarf besteht – und nicht nur, wie dies immer wieder geschieht, zur „Rettung“ der Identität des „Priestertums des Dienstes“, des „hierarchischen Priestertums“, sondern auch zur theologischen und pastoralen Implementierung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, die noch aussteht. Warum und mit welchem „Vernunftgrund“ ist die Hälfte der Menschheit von den entscheidenden Leitungsämtern in der katholischen Kirche „von Natur“ ausgeschlossen? Warum entsprechen die Strukturen der katholischen Kirche, die Jahrhunderte lang in der Regierungsorganisation und der Professionalität ihres Verwaltungsapparats für die weltlichen Höfe ein nachahmenswertes Modell war, seit 200 Jahren nicht der demokratisch-partizipativen Tendenz und dem Prinzip der Gewaltenteilung der westlichen Welt? Wie können Christen und Christinnen heute die Fackel des Glaubens durch die Geschichte glaubwürdig tragen?

Dies und vieles mehr sollte im Theologiestudium bedacht, geprüft, hinterfragt werden. Die Studierenden sollten eifrig, zur rechten wie zur unrechten Zeit, Fragen stellen. Und von den Dozierenden ist zu erwarten, dass sie mit intellektueller Redlichkeit diese Fragen bereits durchdacht haben und plausible Antworten geben können, die nicht nur auf Traditions- oder Autoritätsargumenten basieren. Denn diese sind bekanntlich die schwächsten Argumente, wenn sie nicht mit Vernunftgründen abgestützt werden können. Ein Theologiestudium, das solche Fragen behandelt und redlich zu beantworten versucht, bereitet die Absolventen und Absolventinnen darauf vor, bei ihrer künftigen Arbeit stets bereit zu sein, „jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt; antwortet aber bescheiden und ehrfürchtig“ ( 1 Petr 3,15-16). Der Zweck des Theologiestudiums bei dieser radikalen Infragestellung ist natürlich nicht, vom Glauben abzubringen, sondern den kindlichen Glauben zu hinterfragen und zu einem erwachsenen Glauben, zu einer zweiten Naivität zu führen, die durch das Feuer der Kritik hindurch gegangen ist, und die mit dem Vater des kranken Knaben zum Herrn sagt: „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,24). Und natürlich muss die Theologie dabei ihrem eigenen hermeneutischen Zirkel treu bleiben: Glaube und Vernunft gehören zusammen.

Wenn ein Theologiestudium nicht zu diesen Fragen und zu dieser gläubigen Haltung „mal-gré tout“ führt, ist es eine schlechte Theologie. Und wenn die Studierenden am Ende ihres Studiums den Mantel des kindlichen Glaubens in der Garderobe vergessen, als ob sie ihn in dieser „winterlichen Zeit“ nicht mehr bräuchten, haben sie die falschen Schlüsse aus ihrem Studium gezogen. Denn in einer Religion brauchen wir nicht nur die Gründe des Verstandes, die Vernunftgründe, sondern auch, wie Pascal gut wusste, die Gründe des Herzens, die raisons du cœur. Bei aller Anstrengung des Begriffs wird unser Erkennen hier immer Stückwerk bleiben: „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin“ (1 Kor 13,12). Deswegen tut es gut, den Wärme spendenden Mantel von der Garderobe zu nehmen, ihn wieder anzuziehen, und in unserem Herzen die Frage des Auferstandenen an Petrus als eine an uns persönlich gerichtete mit den Worten des Fischers aus Galiläa zu beantworten: „Herr, du weisst alles; du weisst, dass ich dich liebe“ (Joh 21,17). Denn das Studium der Theologie wird gekrönt durch die gläubige Einsicht, dass Jesus „Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68) hat, dass er „der Weg, und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) ist, ein Lehr- und Lebemeister, nicht ein Volksbetrüger. Eine theologische Fakultät bildet nicht „Kirchenfunktionäre“ aus, sondern vermittelt gute Gründe zum Einsatz für den messianischen Weg Jesu in Welt und Kirche.   

Ich wünsche uns allen, Mitgliedern, Freunden/Freundinnen unserer Theologischen Fakultät, dass wir in diesen Zeiten angesichts der Unvollkommenheit von Kirche und Theologie nicht verzagen und die Wärme des „Mantels“ bzw. die raisons du cœur spüren. Ich selbst bete – als ausgebildeter Theologe und unterdessen ergrauter Mann – immer noch mit kindlichem Vertrauen das Schutzengelgebet, das mir meine Grossmutter als Kleinkind beibrachte. Und ich lasse mir dies von keiner „Anstrengung des Begriffs“ nehmen – genauso wenig wie die Liebe zu meiner Kirche, „malgré tout“.

Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Mariano Delgado, Dekan