Publikationsdatum 26.05.2020

Das Wort des Dekans, Mariano Delgado - FS 2020/III


Liebe Freunde, liebe Freundinnen und liebe Mitglieder der Theologischen Fakultät!

Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil verband Johannes XXIII. – quasi in der Sprache des Joachim von Fiore – die Hoffnung auf einen Sprung nach vorn und ein neues Pfingsten, in dem wir als „Kirche der Armen“ anfangen werden, „das Evangelium besser zu verstehen“.

Das Konzil versucht, den Heilsplan Gottes mit der Menschheit, den Sinn und die Sendung der Kirche angesichts der heutigen Evangelisierungsaufgabe in einer Sprache der liebevollen Zuwendung Gottes zur Welt und im Zeichen einer dienenden, samaritanischen und barmherzigen Kirche, die dem Guten Hirten nachfolgten möchte, so klar und einladend wie möglich zu präsentieren. Und es stellt in einer formellen Erklärung fest: „Dabei bestimmt die Kirche kein irdischer Machtwille, sondern nur dies eine: unter Führung des Geistes, des Trösters, das Werk Christi selbst weiterzuführen, der in die Welt kam, um der Wahrheit Zeugnis zu geben; zu retten, nicht zu richten; zu dienen, nicht sich bedienen zu lassen“ (Gaudium et spes 3).

Seit einigen Jahrzehnten ringen Theologen und Theologinnen um die angemessene Hermeneutik des Konzils: Kontinuität versus Diskontinuität bzw. Bruch oder eher eine „Hermeneutik der Reform“ (Benedikt XVI.) mit Kontinuität in den Grundsätzen und kleinen Diskontinuitäten auf verschiedenen Ebenen in Bezug auf Vorübergehendes? Ich sehe in der „Hermeneutik der Evangelisierung“ den Schlüssel zum Verstehen des Konzils. Denn die Evangelisierung ist das Daseinsrecht der Kirche, die sich als „ihrem Wesen nach missionarisch” (Ad gentes 2) versteht. Damit meine ich, dass die Kirche zum Wohle der Evangelisierung, d.h. damit sie, die „Fackel des Glaubens“, von der Johannes XXIII. in seiner Eröffnungsansprache Gaudet mater Ecclesia vom 11. Oktober 1962 auch sprach, durch die Geschichte tragen und alle Völker und Menschen zur Annahme des „Evangeliums vom Reich“ (Mt 24,14) überzeugend einladen kann, den Mut zu grösseren Diskontinuitäten haben sollte: eben zu einem Sprung nach vorn und einem neuen Pfingsten.

Dazu genügt ein Blick auf das „erste“ Konzil der Kirchengeschichte (Apg 15,1-35). Die darin getroffene Entscheidung zur Öffnung der Kirche für die Nicht-Juden unter Verzicht auf „wichtige“ Teile des Judentums wie die Beschneidung und mit der konsequenten Entwicklung eines neuen Volk-Gottes-Begriffs, der aus den Heiden „Abrahams Nachkommen, Erben kraft der Verheissung“ (Gal 3,29) macht: stellt dies eine „Hermeneutik der Reform“ mit Kontinuität in den Grundsätzen und kleinen Diskontinuitäten im Wandelbaren dar, oder ist es vielmehr Ausdruck einer „Hermeneutik der Evangelisierung“, die sich angesichts der Zeichen der Zeit auch in sehr wichtigen Fragen die Freiheit nimmt, jene Entscheidungen zu treffen, die der Dynamik der Evangelisierung förderlich sind, auch wenn dies „Abschaffungen und Unterbrechungen der heilsgeschichtlichen Kontinuität“ (Karl Rahner) zugunsten der nötigen Innovationen bedeuten sollte? Bemerkenswert beim Jerusalemer Konzil ist nicht nur die paulinische Kühnheit, einschneidige Veränderungen zugunsten der Evangelisierung zu verlangen, sondern auch dass Petrus neben Einheitsverantwortung auch die Fähigkeit erkennen lässt, Mentor oder Tutor des Wandels zu sein.

Mit seinem Appell an die „Freude“ der Evangelisierung in Evangelii gaudium (2013) erinnert Papst Franziskus implizit an das Gaudet in der Eröffnungsansprache des „papa buono“. Daher finden wir bei ihm eine ähnliche Sprache und eine vergleichbare Sicht der Aufgabe der Kirche in der Welt von heute. In seiner Homilie während der hl. Messe in Santa Marta vom 6. Juli 2013 liess Franziskus erkennen, dass er seinen Dienst „petrinisch und paulinisch“ versteht. Er erinnerte an Jesus Wort von den neuen Schläuchen, die man für den neuen Wein benötige (Mt 9,17), bevor er auf das Jerusalemer Konzil anspielte: „Im christlichen Leben, wie auch im Leben der Kirche, gibt es einfallende Strukturen. Es ist erforderlich, dass sie erneuert werden. Die Kirche hat stets auf den Dialog mit den Kulturen Rücksicht genommen und versucht, sich zu erneuern, um den unterschiedlichen Anforderungen zu genügen, die durch Ort, Zeit und Menschen an sie gestellt werden. Das ist eine Arbeit, die die Kirche immer gemacht hat, vom ersten Augenblick an. Erinnern wir uns an die erste theologische Auseinandersetzung: muss man, um Christ zu werden, alle religiösen jüdischen Gebote befolgen, oder nicht? Nein, sie haben nein gesagt“. Bereits in den Anfängen habe die Kirche gelehrt, „keine Angst vor der Neuheit des Evangeliums zu haben, keine Angst vor der Erneuerung zu haben, die der Heilige Geist in uns bewirkt, keine Angst vor der Erneuerung der Strukturen zu haben. Die Kirche ist frei. Der Heilige Geist treibt sie an“.“ Mit einem Wort des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz lädt uns Franziskus in Evangelii gaudium (11) zur immerwährenden kontemplativen Entdeckung der in Christus verborgenen Schätze (Kol 2,3) ein: „Dieses Dickicht von Gottes Weisheit und Wissen ist so tief und unendlich, dass ein Mensch, auch wenn er noch so viel davon weiss, immer tiefer eindringen kann“. Was ist denn los mit den Theologen und Bischöfen? Beten wir vielleicht zu wenig, wenn wir für unsere Zeit so wenig Neues entdecken, während die Welt uns herausfordert, Kirche und Theologie an Glaubwürdigkeit verlieren und die Evangelisierung dadurch schwieriger wird? Was wird man am Ende dieses Jahrhunderts von uns denken? Wird man uns nicht vorwerfen, dass wir bei der Reform der Kirche, die, wie Kardinal Martini sagte, seit mehr als zweihundert Jahren ansteht, den Sprung nach vorn nicht gewagt haben?

Hinter diesen Zitaten versteckt sich das wesentliche Problem der Kirchenreform und der Hermeneutik des Konzils: verstehen wir die Kirchengeschichte als die blosse materielle Entfaltung der Substanz oder des Schatzes der Anfänge, so dass Neuentwicklungen nur in Kontinuität mit der Tradition bei kleinen Diskontinuitäten im Nebensächlichen möglich sind – oder ist die Kirche angesichts der Zeichen der Zeit auch frei, neue Traditionen zu inaugurieren, weil wir in der Kraft des Geistes aus den in Christus verborgenen Schätzen zum Wohle der Evangelisierung Neues zutage fördern können?

In diesen schweren Zeiten des Coronavirus wünsche ich allen Freundinnen und Freunden sowie allen Mitgliedern der theologischen Fakultät gute Gesundheit, ein frohes Pfingsten sowie dass wir für ein „neues Pfingsten“ in der Kraft des Geistes beten!

Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Mariano Delgado, Dekan