«In der Praxis wird zu häufig zulasten der Umwelt entschieden»

«In der Praxis wird zu häufig zulasten der Umwelt entschieden»

In ihrer Doktorarbeit hat sich Sian Affolter mit dem Verhältnis von Recht, Landwirtschaft und Umwelt auseinandergesetzt – und ist dafür mit dem Vigener-Preis ausgezeichnet worden. Im Interview erklärt sie, warum der Gesetzgeber vor grossen Herausforderungen steht.

«Der Umgang der Landwirtschaft mit der natürlichen Umwelt – de lege lata und de lege ferenda», lautet der Titel der Dissertation, für die Sian Affolter am Dies Academicus den Joseph Vigener-Preis überreicht bekam. Mit den Vigener-Preisen werden an der Universität Freiburg seit 1908 jedes Jahr herausragende Doktorarbeiten ausgezeichnet. Sian Affolter verfolgte in ihrer Arbeit zwei Ziele: Einerseits wollte die Juristin den Status Quo des schweizerischen Umweltagrarrechts abbilden, andererseits auch eine Grundlage für Diskussionen bieten, in welche Richtung sich dieses in Zukunft entwickeln könnte.

Wie kamen Sie auf die Idee für das Thema?
Ich bin im Luzerner Seetal aufgewachsen, das ist ein sehr ländliches Gebiet. Die überdüngten Mittellandseen sind dort seit meiner Kindheit ein Dauerthema. Entsprechend interessant und relevant finde ich das Verhältnis zwischen Recht, Landwirtschaft und Umwelt. Ausserdem bot sich das Thema an, weil es juristisch kaum abgedeckt wird – insbesondere die Schnittstelle zwischen Umweltrecht und Agrarrecht.

Eines der Ziele Ihrer Arbeit lautete, bestehende Defizite im Schweizer Recht aufzuzeigen. Was haben Sie herausgefunden?
Als Rechtswissenschaftlerin kann ich nur anschauen, wo die juristischen Probleme liegen, die Wirksamkeit bestimmter Instrumente zu bewerten ist nicht meine Aufgabe. Aber ich kann problematische Tendenzen erkennen und aufzeigen. Dazu habe ich das Verfassungsrecht, den hierarchisch obersten Rechtserlass, in Bezug auf den Umgang der Landwirtschaft mit der natürlichen Umwelt analysiert. Anschliessend habe ich mir eine Stufe darunter das Gesetzesrecht angeschaut und verglichen, ob der verfassungsrechtliche Auftrag und die gesetzliche Umsetzung miteinander übereinstimmen. Eine zentrale Feststellung meiner Dissertation ist: Die Verfassung verlangt vom Bund, dafür zu sorgen, dass die Landwirtschaft die ökologische Integrität wahrt. Das heisst, das System Umwelt darf nicht so weit beeinträchtigt werden, dass es sich nicht mehr selbst erholen kann. Ich denke, dass wir faktisch im Moment an einem Punkt angelangt sind, an dem das nicht mehr gewährleistet ist, weil die Landwirtschaft zu sehr in die Umwelt eingreift.

Wo liegt das Problem?
Nur bedingt im Bereich der Gesetzgebung, sondern in erster Linie beim Vollzug. Recht funktioniert so, dass es jeweils verschiedene Interessen abzuwägen gilt. Es gibt andere legitime Interessen, die in der Verfassung verankert sind. Ein klassisches Beispiel aus dem Bereich der Landwirtschaft ist die Versorgungssicherheit. Wenn es also um die Erstellung einer Schweinemastanlage geht, kann argumentiert werden, dass es der Versorgungssicherheit dient, wenn dort inländisch Schweinefleisch produziert wird. Gleichzeitig ist es für die Umwelt schädlich, die Ämter müssen bei ihrem Entscheid also abwägen. In der Praxis wird zu häufig zulasten der Umwelt entschieden – für diese Feststellung spricht jedenfalls die faktische Situation. Der Bundesrat sagt selbst, dass die verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen nicht immer gewahrt werden. Das spricht dafür, dass irgendwo ein Defizit besteht, die Waage oft auf die andere Seite kippt – Versorgungssicherheit ist ein attraktives Argument, das in der breiten Bevölkerung gut ankommt.

Müsste der Spielraum bei der Rechtsprechung eingeschränkt werden?
Zunächst gilt es festzuhalten: Es ist wichtig, bei der Gesetzgebung zuzulassen, dass im Einzelfall abgewogen wird. Es gibt keine Lösungen, die jedem Einzelfall gerecht werden. Aber was im Einzelfall womöglich zu einer zufriedenstellenden Lösung führt, ist in der Summe nicht zwangsläufig ebenfalls eine stimmige Lösung. Deshalb ist die Frage erlaubt, ob der Gesetzgeber die Abwägung manchmal nicht stärker anleiten sollte. Im Sinne des Umweltschutzes könnte er in gewissen Bereichen, zum Beispiel wenn es um Biodiversität geht, festlegen, dass dieses Interesse besonders stark zu gewichten ist.

Sie haben das Schweizer Recht auch mit dem EU-Recht verglichen. In welchen Bereichen könnte sich die Schweiz inspirieren lassen?
Die Rechtslage ist weitestgehend ähnlich. Ich konnte allerdings einige konkrete Unterschiede herausarbeiten, über die es sich nachzudenken lohnte. Einer davon ist der Lebensraumschutz. In diesem Bereich kennt die EU ein klares Verschlechterungsverbot. Festzuhalten, dass die Situation nicht schlechter werden darf, als sie aktuell ist, ist eine feine Anleitung für die Interessenabwägung im Vollzug – es werden Leitplanken gesetzt. Einen weiteren Unterschied gibt es bei der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln, die in der EU zeitlich begrenzt ist, in der Schweiz nicht. Und dann wäre noch die Umweltverträglichkeitsprüfung. Darunter versteht man die Prüfung eines Projekts von gewisser Grösse, bei dem man davon ausgeht, dass es Auswirkungen auf die Umwelt haben könnte. In diesem formalisierten Verfahren werden vorgängig die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt eingehend geprüft, klassische Beispiele sind grosse Einkaufszentren oder Parkhäuser. In der Landwirtschaft hingegen ist in der Schweiz eine Umweltverträglichkeitsprüfung sehr selten. Die wird nur bei sehr grossen Ställen vorgenommen, das EU-Recht geht weiter, entsprechend fallen mehr Anlagen darunter.

In Ihrer Schlussfolgerung schreiben Sie, dass das Schweizer Umweltagrarrecht keine gravierenden Mängel aufweist, das grundlegende Problem, dass die landwirtschaftliche Produktion nicht mehr an die ökologischen Gegebenheiten angepasst ist, allerdings nach einer grundlegenden Reaktion schreit. Was stellen Sie sich darunter vor?
Es fehlt der gesamtheitliche, langfristige Ansatz. Den braucht es aber, um die ökologische Integrität zu bewahren. Es wäre wünschenswert, dass die gesetzgebenden Instanzen nicht bloss an verschiedenen Rädchen drehen, sondern von Zeit zu Zeit einen Schritt zurück machen, sich der rechtlichen Grundlagen besinnen und sich fragen: Was verlangt eigentlich die Verfassung von uns? Erfüllen wir das? Es wird hier ein Grenzwert für Pestizide angepasst, da festgelegt, wer wann düngen darf – aber es wird nicht die Frage gestellt, ob die Landwirtschaft vielleicht grundsätzlich überdacht werden sollte. Mir ist klar, dass das politisch schwer umsetzbar ist, aber es ist ein Privileg der Forschung, auch einmal den Idealzustand aufzeigen zu dürfen.

Wie sähe dieser Idealzustand denn aus?
Im Moment wird stark auf die einzelnen Probleme fokussiert und dann mit einem spezifischen Instrument darauf reagiert. Es wird zum Beispiel vor allem geschaut, wie die Landwirtschaft produziert, aber nicht, was. Zwar kann es nicht die Idee sein, den Leuten vorzuschreiben, was sie produzieren sollen, das würde auch rechtlich zu weit gehen. Statt mit Geboten und Verboten könnten wir jedoch durch eine indirekte Verhaltenssteuerung versuchen, Einfluss zu nehmen. Es wäre unter dem Aspekt des Umweltschutzes legitim, die Produktion gewisser Erzeugnisse mehr zu fördern und zu pushen als von anderen. Und es wäre interessant, sich die Frage zu stellen, wie indirekt der Konsum gesteuert werden könnte. Ändert sich die Nachfrage, ändert sich die Landwirtschaft. Ernährung hat einen Einfluss auf die Umwelt, und letztlich produziert die Landwirtschaft Nahrung, deshalb sollten wir in diesen Überlegungsstrang immer auch die Konsument_innen miteinbeziehen. Wir sollten uns die Frage stellen: Welche Lebensmittel wollen wir den Konsument_innen ans Herz legen? Ein klassisches Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung ist die Einführung von Labels. Es wäre beispielsweise ein Nachhaltigkeitslabel denkbar, das sich nicht nur auf die Herstellung, sondern auch auf das eigentliche Produkt bezieht. Das wäre gesamtheitliches Denken, da müssten wir manchmal mutiger sein.

Zum Schluss noch eine komplett unwissenschaftliche Frage: Der Vigener-Preis ist mit 2000 Franken dotiert, was machen Sie mit dem Geld?
Ich hatte das Geld im Hinterkopf, als ich mir kürzlich ein neues Zelt für die Veloferien gekauft habe. Sonst habe ich noch keine konkreten Pläne – aber auf jeden Fall habe ich jetzt wirklich ein tolles Zelt …

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Author

Matthias Fasel ist Gesellschaftswissenschaftler, Sportredaktor bei den «Freiburger Nachrichten» und freischaffender Journalist.

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