Schweizerische Zentrum für Islam unPublikationsdatum 03.09.2021

Pluralisierung und Säkularisierung: zwei Herausforderungen für die Seelsorge


Wie positioniert sich die Seelsorge in öffentlichen Einrichtungen? In einer Zeit, in der verschiedene Schweizer Kantone ihre Beziehungen zu den religiösen Gemeinschaften überdenken, veröffentlicht das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) eine innovative vergleichende Studie zu diesem Thema.

Die Untersuchung des SZIG zeigt auf, dass sich die – traditionellerweise christlichen – Seelsorge heute mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert sieht. Einerseits muss sie der religiösen Pluralisierung ihrer Begünstigten Rechnung tragen. Andererseits muss sie sich integrieren und ihren Ansatz an die Säkularisierung der öffentlichen Einrichtungen anpassen.

Ihren Platz finden
In den kantonalen Einrichtungen, die Gegenstand der Untersuchung bildeten, geniessen die Seelsorger_innen der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche zwar Vorrechte, begleiten aber immer öfter Personen, die ihren Glauben nicht oder nicht im gleichen Masse teilen. Zu ihren Funktionen gehören deshalb mittlerweile auch die Rekrutierung, die Integration und die Orientierung von Seelsorger_innen von Minderheitenreligionen wie dem Islam, dem Judentum, der Orthodoxie und seltener dem Buddhismus oder dem Hinduismus.

Im Übrigen sind die Seelsorger_innen immer häufiger in Einrichtungen tätig, die sich von den religiösen Normen emanzipiert haben. Deren Mitarbeitende haben oft Mühe zu erfassen, wie wichtig die religiöse und spirituelle Begleitung bei der individuellen Betreuung sein kann. Zahlreiche Gesprächsauszüge geben Einblick in Situationen, in denen die Intervention der Seelsorger_innen bedeutsam ist. So beispielsweise das Zeugnis von Pedro J., katholischer Häftling, über seine Seelsorgerin: «Hier kannst du nicht über ernste Dinge sprechen. Okay, zwischendurch schon. Aber normalerweise nicht. Aber mit ihr kann ich das. Und das hat mir geholfen. Sie hat mir Mut gemacht. Sie hat mir gesagt ‹Mach schon, du kannst das, du wirst das schaffen›. Und das hilft mir.» Oder das Zeugnis von Nadia E., muslimische Seelsorgerin im Spital: «Als Bindeglied in der Familie und zwischen den Familien wirken, eine Art Mediation zwischen den Familien und dem medizinischen Team durchführen – etwa, wenn nicht verstanden wird, weshalb ein Medikament angeboten wird, das die Familie als «Haram» betrachtet, also als eine Art Droge. Das Medikament aber zur Schmerzlinderung im Endstadium verabreicht wird. Es ist nicht immer einfach.»

Die Studie hebt auch die Bedeutung des institutionellen Umfelds hervor, in dem die Seelsorger_innen ihre Arbeit verrichten: Zwar ist die Funktion an und für sich in allen Einrichtungen dieselbe, aber der konkrete Einsatz vor Ort erfordert viel Anpassungs- und Innovationsgeschick, um der betreuten Person in ihrer Gesamtheit gerecht zu werden und ihre Geschichte und ihre Verletzlichkeit zu achten.

Eine umfangreiche praktische Arbeit
Zwischen September 2020 und August 2021 untersuchten Mallory Schneuwly Purdie und Aude Zurbuchen, zwei Forscherinnen des SZIG, die Seelsorge an Gymnasien, in Asylunterkünften, Spitälern und Gefängnissen der Kantone Waadt und Genf. Während 8 Monaten trafen sie verschiedene Seelsorger_innen und begleiteten sie manchmal auch bei ihrer täglichen Arbeit. Insgesamt haben sie nicht weniger als 54 Personen befragt, darunter 25 Seelsorgerinnen bzw. Seelsorger, 12 Mitglieder der Direktion oder des Personals der Institutionen und 13 Begünstigte. Sie nahmen auch an rund 19 Veranstaltungen und Aktivitäten teil, die von den Seelsorger_innen organisiert worden waren. Die Forscherinnen vergleichen in ihrer Arbeit nicht nur vier verschiedene Einrichtungen, sondern auch zwei Kantone, in denen die Beziehung zwischen dem Staat und den religiösen Gemeinschaften unterschiedlich gehandhabt wird. Sie zeigen damit auf, welche Herausforderungen sich stellen und wie der zunehmenden Säkularisierung und Pluralisierung der schweizerischen Gesellschaft auf regionaler Ebene konkret begegnet wird.

Dieses Projekt konnte dank der Unterstützung der Fondation Pierre et Laura Zurcher durchgeführt werden.

Zur Studie: https://doi.org/10.51363/unifr.szigs.2021.005