Das Projekt

 Humanistica Helvetica will ein lange vernachlässigtes Kapitel der Schweizer Literaturgeschichte wieder ans Tageslicht bringen: die lateinische Literatur der Frühen Neuzeit. In der Phase des ersten SNF-Projekts dieses Namens (4/2020-3/2024: Humanistica Helvetica I) lag der Schwerpunkt noch besonders auf den Autoren zwischen 1500 und 1580 im deutschsprachigen Raum (Basel, Bern, Zürich, St. Gallen etc.). Das daran anschliessende SNF-Projekt Humanistica Helvetica II (4/2024-3/2028) wird in geographischer und zeitlicher Hinsicht eine breitere Perspektive einnehmen. Berücksichtigt werden jetzt neben den Deutschschweizer Autoren auch die Welschschweizer (Genf, Lausanne etc.) und die Tessiner. Der Untersuchungszeitraum umfasst nun die Jahre 1500-1650. Über den Renaissancehumanismus und die Reformationszeit hinaus werden somit nun zum Beispiel auch der sogenannte Späthumanismus und der Barock in den Blick genommen.

Im Zentrum unserer Projektarbeit steht das Internetportal Humanistica Helvetica: Es präsentiert zum jetzigen Zeitpunkt (3/2024) bereits die lateinische Literatur des 16. Jahrhunderts in der Schweiz, sechs bedeutende repräsentative Autoren (Joachim Vadian, Heinrich Glarean, Johannes Fabricius Montanus, Conrad Gessner, Rudolf Gwalther und Simon Lemnius) sowie verschiedene literarische Themen und Gattungen (siehe unten), und es bietet eine Vielzahl von edierten, übersetzten und kommentierten Texten; im Normalfall wird auch die handschriftliche Urversion oder die gedruckte Erstausgabe der vorgestellten Texte zugänglich gemacht. Ergänzt wird dieses Angebot durch eine Liste von Hilfsmitteln für das Studium der lateinischen humanistischen Literatur (Online- und Printressourcen), eine allgemeine Bibliographie sowie mehrere Indizes. Umfangreiche Einleitungen erklären die Begriffe „Humanismus“, „Renaissance“ und „Neulatein“ und gehen der Bedeutung des Buchdrucks für das Geistesleben der Epoche nach. Im Zuge von Humanistica Helvetica II wird das Portal in den kommenden vier Jahren laufend um weitere Autoren, Texte und Themen erweitert werden, um die angestrebte geographische und zeitliche Erweiterung zu verwirklichen.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der neulateinischen Schweizer Literatur der Frühen Neuzeit besitzt Berührungspunkte mit verschiedenen Disziplinen (Geschichte, Germanistik, Romanistik etc.). Auch ihnen wird Humanistica Helvetica als Hilfsmittel dienlich sein.

Humanistica Helvetica will aber nicht nur Akademikern, sondern auch einem breiteren Publikum ermöglichen, mehr über ein wenig bekanntes Kapitel der Schweizer Vergangenheit und Literaturgeschichte zu erfahren.

Die Schweizer neulateinische Literatur zeichnet sich durch eine grosse Gattungsvielfalt aus und behandelt zahlreiche Themen, von denen viele sehr aktuell sind. Die folgende, keineswegs vollständige Liste enthält eine Reihe von Themen, die im Rahmen von Humanistica Helvetica zur Sprache kommen:

Religiöse Fragen 

  • Beziehung zwischen den Religionen und Konfessionen (wir befinden uns in der Zeit der Glaubensspaltung und der Reformation): Toleranz, Polemik etc.
  • Das Verhältnis zum Islam und die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm im Zeitalter der Türkenfurcht.
  • Christentum und heidnisches Antikenerbe: unauflösbarer Widerspruch oder sinnvolle Ergänzung?

Bildungsfragen

  • Für welche Art von Bildung stehen die Humanisten?
  • Humanistische Bildung im Dienst von Kirche und Staat.
  • Die Rolle von Schule und Universität. 
  • Wie und warum studiert man antike Sprachen?
  • Neue Schulen und Hochschulen.
  • Die Wiederentdeckung der Antike – ein Stimulus für neue Gedanken.

Gesellschaftliche Fragen

  • Konzept der Ehe.
  • Männliche Autorität.
  • Rolle der Frau.
  • Aussergewöhnliche Mobilität von Wissenschaftlern und Verbreitung des Wissens (Buchdruck, Reisen; Programm „Erasmus“: der Begriff stammt von Erasmus von Rotterdam, einem der wichtigsten Vorbilder der Schweizer Humanisten).

Die Identität der Schweiz und ihre Rolle in Europa

  • Wilhelm Tell als Katalysator.
  • Die Schweiz, die sich als Sonderfall (Demokratie) in einer von Fürsten und Königen regierten Welt präsentiert.
  • Die Schweizer Identität im Widerstreit mit anderen Identitätsmarkern.
  • Die Schweiz, ein gebirgiges Land, das mutige Männer und Frauen hervorbringt.
  • Gibt es eine spezifisch schweizerische Literatur?

Politische Fragen

  • Aristokratie und Demokratie.
  • Eigenständigkeit und Abhängigkeiten der Eidgenossenschaft.
  • Innere Konflikte der Eidgenossenschaft.
  • Schweizer in Fremden Diensten.

Wichtige philosophische Fragen

  • Tod.
  • Rolle des Individuums.
  • Der Mensch im Zentrum.

Literarische Gattungen

  • Biographie und Autobiographie.
  • Briefliteratur.
  • Theater.
  • Poesie in all ihren Facetten (Epik, didaktische Poesie, Elegie, Ekloge, lyrische Poesie, Epigramm...).
  • Ausgaben, Übersetzungen, Kommentare.
  • Wissenschaftliche Traktate.