Internes InterviewPublikationsdatum 18.03.2022

Interview mit Christine Schliesser, Mitglied im Ethikbeirat der GEKE, zur Stellungnahme zum Krieg in der Ukraine


Putins Angriffskrieg auf die Ukraine erschüttert uns alle. Zugleich stellen sich tiefer liegende Fragen an eine christliche Friedensethik. Wie sollen, wie können wir als Christinnen und Christen zu militärischen Konflikten wie diesem Stellung nehmen? Dieser anspruchsvollen Aufgabe hat sich u.a. auch die GEKE (Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa) gestellt, die ca. 50 Mio. Protestantinnen und Protestanten vertritt. PD Dr. Christine Schliesser ist Mitglied im Ethikbeirat der GEKE und hat die Stellungnahme massgeblich mit erarbeitet.

Was waren die Herausforderungen beim Verfassen einer solchen Stellungnahme?
CS: Zunächst war und ist da natürlich das Schreckliche dieser Invasion. Die Herausforderungen, dazu eine Stellungnahme zu verfassen, lagen dabei auf mehreren Ebenen. Zum einen formal: Die Stellungnahme sollte möglichst zeitnah herauskommen, d.h. am liebsten schon vorgestern. Zum anderen aber vor allem inhaltlich. Die Mitglieder im Ethikbeirat repräsentieren nicht nur unterschiedliche geographische und kirchliche Kontexte in Europa, sondern auch ganz verschiedene Sichtweisen. „Realos“ treffen hier auf „Idealisten“ – wobei ich von diesen Begriffen eigentlich überhaupt nichts halte.

Wie meinst Du das?
CS: Ich glaube, es hilft inhaltlich herzlich wenig, wenn wir einander als „Realos“ bzw. als „Idealisten“ abstempeln und damit meinen, die einen opferten ihre christlichen und/oder moralischen Ideale leichtfertig auf dem Altar der politischen Zweckmässigkeit, während die anderen letztlich zu naiv für diese Welt seien. Ein Haudrauf-Militarismus muss sich demselben Vorwurf der Naivität stellen (Stichwort: Scheitern der westlichen Militäreinsätze in Libyen, Afghanistan, etc.) wie eine Haltung, die die Augen verschliesst und die Hände in den Schoss legt.

Welchen Weg geht dann die Stellungnahme?
CS: Neben der Verurteilung von Putins völkerrechtswidrigen Angriffskrieges – der übrigens schon 2014 begann – weisen wir auf die bleibende Spannung hin, die man nicht einfach auflösen kann. Ja, wir sind als Kirchen und als Einzelne dazu berufen, Friedensstifter zu sein. Aber zugleich gilt: Wir sind auch dazu berufen, Unrecht und Unterdrückung nicht tatenlos zuzusehen. Dazu gehört auch die Anerkenntnis, dass „jeder verantwortlich Handelnde schuldig wird“ (Bonhoeffer). Konkret heißt dies: Volle Solidarität mit der Ukraine durch Sanktionen, aber auch durch Hilfe zur Selbstverteidigung (Waffenlieferungen). Der Ukraine-Krieg hat uns vor neue wie alte Fragen gestellt, die die christliche Friedensethik, aber letztlich auch jede und jeden Einzelnen von uns herausfordern.

Was ist für Dich das Wichtigste in der Stellungnahme?  
CS: Die Stellungnahme beginnt mit einem Friedensgebet. Das ist für mich das Zentrale. Hier wird der Blick auf das gelenkt, was Karl Barth unübertrefflich formuliert hat: „Ja, die Welt ist dunkel. .... Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her!“

Christine Schliesser, geb. 1977, studierte evangelische Theologie und Englisch in Tübingen und Pasadena, USA. Nach der Promotion am Fuller Theological Seminary und einer Habilitation an der Universität Zürich, ist sie heute Privatdozentin für Systematische Theologie an der Universität Zürich und Research Fellow in Studies in Historical Trauma and Transformation an der Universität Stellenbosch, Südafrika. Seit August 2021 ist Sie zudem Mitarbeiterin am Zentrum Glaube & Gesellschaft und leitet den CAS Grundfragen christlicher Existenz.