Medizin im Nationalsozialismus: So wurde das Grauen salonfähig gemacht

Medizin im Nationalsozialismus: So wurde das Grauen salonfähig gemacht

In den Kellern von medizinischen Instituten in Deutschland und in anderen europäischen Ländern lagern Kisten mit menschlichen Organpräparaten, vor allem Gehirnpräparate , deren Herkunft unklar ist. Viele von diesen gehören zu Opfern des Naziregimes, deren Körper auch nach ihrem Tod ausgebeutet wurden. Noch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Körperteile und Präparate in der Lehre verwendet oder später anonym begraben.

Inakzeptabel, laut Prof. Paul Weindling, einem britischen Forscher und Medizinhistoriker, der seine Karriere der Aufgabe widmet, die Namen der individuellen Opfer herauszufinden und ihre Geschichten zu rekonstruieren. Für diese Arbeit wurde er 2019 mit dem Dr. h. c. der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät ausgezeichnet. Dieser Ehrentitel war für ihn von grossem Wert, da er die Bedeutung seiner Arbeit aufzeigt und ihn bei der Fortsetzung seiner Forschung unterstützt.

Aktuelle ethische Fragen
Unter anderem hat Paul Weindling nun fünf Jahre mit der Leopoldina, der deutschen Akademie der Wissenschaften, für sein Projekt der Opferforschung zusammengearbeitet. Zum Abschluss dieser Forschungszeit organisierte Paul Weindling eine grosse Tagung mit dem Titel «Medizin im Nationalsozialismus: Kulturen, Strukturen, Lebensgeschichten» vom 13. bis 14. Juni an der Leopoldina. Die Veranstaltung versammelte Forschende aus ganz Europa, die sich mit medizinischen und wissenschaftlichen Verbrechen im Nationalsozialismus befassen. Die Konferenz befasste sich unter anderem mit dem Vorgehen der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, die vor und nach 1945 daran arbeitete, die Namen ihrer Mitglieder, die in NS-Verbrechen verwickelt waren, zu rehabilitieren und sogar mit besonderen Ehren zu versehen. Die Konferenz löste auch ethische Diskussionen aus, wie z. B. die Frage, ob eine öffentliche Kenntlichmachung der Identität von NS-Opfern, die an psychischen Krankheiten litten, problematisch oder historisch geboten sei. Im Rahmen dieser Konferenz lud Paul Weindling Martina King, Professorin für Medical Humanities an der Universität Freiburg, ein, den öffentlichen Abendvortrag zu halten.

Beschönigende Arztromane
«Er sagte mir, ich solle einfach etwas zu Literatur und Medizin sagen», erinnert sich Prof. King. Sie ist Germanistin und befasst sich mit den Beziehungen zwischen Medizin und Literatur im geschichtlichen Kontext, hatte sich aber noch nie mit Büchern, insbesondere nicht mit Arztromanen beschäftigt, die während des Nazi-Regimes in Deutschland geschrieben wurden. In den vier Monaten vor der Konferenz begann sie daher mit dieser neuen Untersuchung, ohne zu wissen, was sie finden würde. Und sie fand vieles: zahlreiche beschönigende Arztromane, die von Medizinern oder Belletristikautoren geschrieben wurden, um die biopolitische Ideologie des NS-Regimes zu rechtfertigen und die Bevölkerung für die verbrecherischen Ideen von Eugenik, Zwangssterilisierung und planmässigem Krankenmord zu gewinnen. Diese Romane waren aufgrund ihrer harmonisierenden, klischeehaften Tendenzen beliebt, wurden verfilmt und blieben weitgehend unhinterfragt. Es handelte sich um wahre Propagandawerke. «Diese Autoren waren kriminell, aber sie blieben ungestraft», sagt King.

Paul Weindling, Dr. h.c. Universität Freiburg, und Martina King auf einer Tagung der Leopoldina

Erst einmal durchatmen
Ihr Vortrag fand auf der Leopoldina-Konferenz positive Aufnahme: Andere Forschende betonten den Mangel an literaturwissenschaftlichen Arbeiten in diesem Bereich. Leider glaubt Prof. King, dass nicht viele Germanist_innen bereit wären, diese Forschung zu übernehmen: «Es ist eine schwierige, anspruchsvolle Arbeit», erklärt sie, «sie erfordert sowohl textanalytische Kenntnisse, um zu verstehen, wie der Einsatz der Sprache diese Texte zu einer wirksamen Propaganda machte, als auch die Bereitschaft, sich mit einer sehr dunklen Geschichte zu beschäftigen.» Sie hofft, dass sich eines Tages jemand eingehender mit diesem Thema befassen wird. Ihrerseits ist sie froh, zu ihrer üblichen Arbeit zurückzukehren: «Ich muss erst einmal durchatmen.» Was Paul Weindling betrifft, wird er mit Unterstützung der Max-Planck-Gesellschaft seine Arbeit über die NS-Geschichte der Max-Plank-Institute für Psychiatrie und für Hirnforschung fortsetzen und sich weiterhin unermüdlich dafür einsetzen, die Identitäten der Opfer zu klären und ihre Geschichten zu erzählen. Er ist dankbar für die Auszeichnung, die ihm von der Universität Freiburg verliehen wurde und die ihm half, die Bedeutung seiner Arbeit zu unterstreichen.

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Author

Désirée a découvert l’Université de Fribourg en 2009 en débutant ses études en sciences biomédicale, et s’est vite senti chez elle dans la ville. Elle est donc revenue à Fribourg en 2014 pour son doctorat en biologie. Durant celui-ci elle s’est pris de passion pour la communication scientifique, en gagnant notamment le concours international Ma thèse en 180 secondes. Elle travaille maintenant au Décanat de la Faculté des sciences et de médecine où elle se charge de la communication et des événements pour les étudiant-e-s.

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