Das Warten als Existenzform

Das Warten als Existenzform

Warten: auf den Geliebten. Darauf, dass die grosse Hitze wieder verschwindet. Warten auf die Zukunft. Der Debütroman von Sabine Haupt, Professorin für Literaturwissenschaft am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, beschreibt das Thema in all seinen alltäglichen, aber auch existenziellen und kulturgeschichtlichen Erscheinungsweisen.

Auszug
«Ich solle die Eingangstür beim Betreten und Verlassen der Wohnung ganz vorsichtig schließen, hatte Philippe bei meiner Ankunft gesagt. Der Knauf, an dem man die Tür festhalten könne, sei leider vor Monaten abgebrochen, und wenn die schwere Wohnungstür – in Paris seien die Wohnungstüren nun mal so schwer wegen der vielen Verriegelungen –  zu schnell ins Schloss fiele, bekäme ich Ärger mit dem Nachbarn. Der nämlich sei verrückt, so verrückt wie viele Menschen hier in Paris: »Eine Form von urbaner Tollwut. Sie beißen aus Einsamkeit um sich, weil sie glauben, dass es die anderen eigentlich gar nicht gibt oder gar nicht geben sollte.« Ich hatte Philippes Erklärung keine Beachtung geschenkt, ich wusste ja, dass er bei solchen Geschichten gern ein wenig übertrieb, vom universalen Dichtestress der Metropolen sprach, von territorialen Kämpfen und enthemmter Anonymität, dabei auch gern Experimente mit Ratten und Mäusen erwähnte, vermutlich weil ihm die Sache mit den Menschen immer ein wenig zu fremd, zu kompliziert, ja wissenschaftlich suspekt erschien. Dabei kannte Philippe sich mit Sachen wirklich gut aus, nur diese eine Sache, die mit den Menschen, egal ob Nachbarn, Freunde oder Familie, blieb ihm stets ein Rätsel. Neurotische Nachbarn seien schlimmer als jede Naturkatastrophe, meinte er und drückte die Tür vorsichtig zurück ins Schloss. Zum Glück werde man das »Rätsel Mensch« aber schon bald in den Griff bekommen, schließlich sei der genetische Code seit April vollständig entschlüsselt. »Endlich hat die menschliche DNA ihre Geheimnisse preisgegeben. Schon bald werden wir ganz genau wissen, in welcher A-T-G-C-Kombination der Wahnsinn von Paris eigentlich steckt.»

Zusammenfassung
Hitzesommer 2003. Charlotte von Manteuffel, unsere aus Genf geflüchtete Protagonistin, verbringt ihn ausgerechnet in einer stickigen Dachwohnung in Paris. Diese hat ihr ein Freund zur Verfügung gestellt, damit sie das Manuskript zu einer Kulturgeschichte des Wartens beenden und ihrer Verlegerin, Frau Trinkl-Gahleitner aus Wien, so rasch wie möglich zukommen lassen kann. Auf den «Schneewittchenkomplex» wartet sie – welche Ironie – aber vergeblich, denn nicht nur die Hitze, das knappe Wasser und die Stromausfälle machen Charlotte zu schaffen. Erinnerungen an die Kindheit, an die Trennung von ihrem emotionalen Erpresser und Partner Adrian, ja gar Erinnerungen aus der Zukunft und leichte Wahn- und Schizophrenie-Symptome hindern sie am Schreiben. Charlotte verliert sich in Gedanken, spinnt Fäden, die teilweise ins Nichts führen. «Wie soll man da wissen, worauf man tatsächlich wartet.» Ihre grösste Ablenkung ist eine Online-Plattform für Sex-Dates, in welcher sie, einer Spinne ähnlich, ihre Männer durch das Aufbauen und Bespielen mehrerer Identitäten in ihr Netz lockt. Charlotte von Manteuffel – ein Mann-Teufel?

Warum dieses Buch lesen?
Der blaue Faden. Pariser Dunkelziffern ist nicht nur ein Roman über das Warten in seinen unterschiedlichen Formen, es ist auch eine Abrechnung mit dem Männlichen. Wer sich weder an den teilweise klischeehaften Rollen von Weiblichkeit und Männlichkeit noch an der fragmentarischen Erzählform und den Gedankensprüngen stört, zudem ein Freund des Existenzialismus und des Absurden ist, wird den Debütroman von Sabine Haupt lieben.

Drei Fragen an die Autorin 

Sabine Haupt, werden Sie nun auch über den Hitzesommer 2018 schreiben? Haben Sie noch weitere Projekte auf Lager?
Ja, das ist wirklich ein kurioser Zufall. Doch vielleicht ist es gar kein Zufall, weil solche extremen Sommertemperaturen wie 2003 und 2018 nun immer häufiger auftreten. Mein Roman spielt ja mit dem Genre der Dystopie, d.h. er überzeichnet gewisse negative ökologische und politische Entwicklungen und begegnet diesen mit einer ganz speziellen existenziellen, ebenfalls satirisch überzeichneten Haltung: dem Warten. Diesem quälenden Zustand, sich gedulden zu müssen, all die Beschränkungen des Lebens auszuhalten zu müssen, obwohl man innerlich fast platzt vor Ungeduld und Sehnsucht.

Ich denke, ein zeitgenössischer Roman kann und darf auf verschiedenen Ebenen agieren: Er braucht eine Sprache, einen Stoff, aber auch Gedanken. Reine Sprachspielereien oder reine, platte Handlung langweilen mich. Besonders, wenn ich sie selbst schreibe. Ich brauche immer so etwas wie „Welthaltigkeit“. In meinem nächsten Roman, von dem inzwischen gut die Hälfte geschrieben ist, geht es u.a. um die Beziehung von Körper und Geist. Das hat sogar eine ziemlich handfeste theologische Schlagseite.

Bleibt mit dem Schreiben noch Zeit für die Wissenschaft?
Ja, natürlich. Ich halte in diesem Herbst drei Vorträge, in Deutschland und in der Schweiz, ausserdem habe ich gerade einen Sammelband zum Thema „Das Medium Film als Herausforderung für Literatur und Kunst“ herausgegeben. Offiziell habe ich ja nur eine 50%-Stelle an der Uni Fribourg. Ausserdem sind meine Töchter inzwischen erwachsen. Eigentlich hatte ich noch nie so viel Zeit wie jetzt.

Ändert die Autorinnenperspektive Ihre Art, Literaturwissenschaft zu unterrichten?
Das frage ich mich selbst. Noch habe ich keine wirklich überzeugende Antwort gefunden. Manchmal habe ich das Gefühl, Texte heute besser und genauer zu verstehen, weil ich den schreibenden Menschen dahinter sehe, sie oder ihn mir beim Schreiben und Nachdenken besser vorstellen kann. Kafka zum Beispiel höre ich manchmal leise lachen. Es ist ja sowohl ein Blödsinn zu glauben, der Text habe nichts mit dem Autor zu tun, wie auch das Gegenteil, also zu glauben, man könne alles irgendwie biografisch lesen.

Was ich auch beim Schreiben merke, insbesondere beim Konzipieren eines längeren zusammenhängenden Textes, ist, wie viele wichtige Fragen und Probleme von der Literaturwissenschaft gar nicht oder nur am Rande beachtet werden. Dinge, die literarisch funktionieren oder eben nicht funktionieren und die wahrscheinlich jeder erfahrenen Schriftstellerin, jedem erfahrenen Lektor mehr oder weniger intuitiv vertraut sind, für die sich die mir bekannten Erzähltheorien aber gar nicht besonders interessieren. Da gibt es noch so manchen blinden Fleck. Vielleicht sollte ich irgendwann mal eine To-do-Liste zusammenstellen, schliesslich beschäftige ich mich ja auch mit literaturtheoretischen Fragen.

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Author

Lovis Noah Cassaris ist Germanist_in, Philosoph_in und Autor_in, seit 2018 zudem Redaktor_in und Social-Media-Expert_in im Team Unicom. Lovis bezeichnet sich selbst als Textarchitekt_in und verfasst in der Freizeit Romane und Kurzgeschichten.

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