Simon Sprechers wissenschaftliches Steckenpferd ist die Erforschung des Gehirns. Das grosse Vorhaben setzt der Neurobiologe mit kleinsten Lebewesen in Tat um. So gelang es dem Professor am Bereich Zoologie kürzlich zu beweisen, dass der Wurm mit Namen Symsagittifera roscoffensis ein Gehirn hat. Und dass dem Tier nach einer Enthauptung der Kopf – mitsamt Hirn – wieder nachwächst.
Simon Sprecher, Sie konnten nachweisen, dass beim Symsagittifera roscoffensis, einem Wurm aus der Gruppe der Plattwürmer, nach einer Enthauptung der Kopf nachwächst und dass diese Tiere ein Hirn haben. Welches ist die Neuheit?
Man wusste bereits, dass sie regenerieren können. Aber nicht genau wie. Man wusste, dass man das Hinterteil abschneiden kann. Bei gewissen Arten auch den Kopf. Aber ob diese Tiere ein Hirn haben, war bisher umstritten. Und wir haben in dieser Publikation jetzt eben bewiesen, dass sie ein Hirn haben. Ein komplexes Hirn sogar. Wenn man den ganzen Kopf entfernt, wächst das ganze Hirn nach. Die Frage: Funktioniert es auch wieder wie vorher? Unsere Experimente zeigen: Ja.
Simon Sprechers Arbeit konzentriert sich auf die Erforschung des Gehirns, dessen Funktionsweisen noch immer zum grössten Teil unverstanden sind. Der 39-jährige Biologe ist assoziierter Professor am Departement für Biologie.
Wieso gerade der Symsagittifera roscoffensis?
Es gibt extrem viele verschieden Würmer. Im Grunde beschreibt man mit «Wurm» nur die Form des Tieres. Viele Tierstämme werden als Würmer bezeichnet, der Regenwurm als Klassiker gehört zu den Anneliden, es gibt Rundwürmer, die oft im Meer oder als Parasiten leben oder auch Plattwürmer… alles verschiedene Stämme, so unterschiedlich wie ein Seeigel und ein Mensch. Nur für uns sehen sie halt aus… wie Würmer.
Beim Regenwurm ist die Regeneration nicht so gut. Ganz anders beim Plattwurm. Gewisse Arten lassen sich in 100 Stücke schneiden und jedes davon gibt einen neuen Wurm. Die Gruppe der Acölen, wie sie auch genannt werden, sind auch im evolutionären Sinne sehr spannend. Als erste Lebewesen entstanden Bakterien, Prokaryoten, dann Lebewesen mit Zellkern und Organellen aus welchen die Tiere, Pflanzen und Pilze hervorgingen. Die ersten, einfachsten Tiere waren im Prinzip nicht viel anderes als eine Ansammlung von Zellen, wie beispielsweise die Schwämme. Die ersten Wesen mit Geweben, wie zum Beispiel Muskeln, waren Quallen und Polypen, die sogenannten «Blumentiere». Diese verfügen bereits über ein diffuses Nervensystem. Das erste «richtige» Tier schliesslich, wie wir uns ein solches vorstellen, mit einem Vorne und Hinten, also einem Kopf und entsprechend einem Hirn, waren diese Würmer. Deshalb sind wir an ihnen interessiert.
Spüren die was?
Weiss ich nicht. Man weiss es nicht.
Wie wurde das Vorhandensein eines Hirns bewiesen?
Man kannte bislang keinen Marker, der das ganze Hirn anfärbt. Mit Serotonin konnte man zwar ein Nervennetz aufzeigen, das gegen vorne dichter wird, aber kein Hirn. Serotonin zeigt nur etwa 10 Prozent an. Wir haben also nach einem Marker gesucht, der alles anfärbt. Mit Neuropil haben wir diesen auch gefunden und so gesehen, dass die Würmer ein Gehirn haben wie ein Insekt auch.
Wie lautet Ihre einfache Definition von Gehirn?
Eine Zentrale im Nervensystem, die alle anderen Domänen kontrolliert.
Sie konnten aufzeigen, dass das Hirn wieder funktioniert, wenn es nachgewachsen ist. Wie?
Die Würmer mussten verschiedene Verhaltenstests bestehen: Die Bewegung zum Licht hin, das Schwimmen nach unten und die Körperkontraktion bei heftigem Schüttelstimulus. Wir haben beobachtet, wozu sie vor der Enthauptung in der Lage sind, was sie ohne Kopf können und was mit dem nachgewachsenen Kopf. Die Körperkontraktion hatten sie noch immer im Griff, die ist also kein Beweis fürs Hirn. Die Bewegung zum Licht hin war ohne Kopf nicht möglich und das Schwimmen nach unten auch nicht. Als der Kopf nachgewachsen war kam nach 20-30 Tagen auch die Bewegung zum Licht hin wieder zurück. Das Abwärtsschwimmen hingegen hat sich nicht regeneriert. Obwohl das dafür nötige Organ vorhanden war, die Stratozyste. Offen bleibt die Frage, ob die Teilregeneration auf den Stress zurückzuführen ist oder auf die Regenerationsfähigkeit an sich.
Würmer suchen das Licht: Eine Zeitraffer-Aufnahme der Phototaxis bei Symsagittifera roscoffensis.
Was bringt uns diese Erkenntnis?
Ein hoffentlich besseres Verständnis des Gehirns. Wir verstehen über 90 Prozent dieses Organs noch nicht.
Ich fand es ausserdem sehr spannend, innerhalb von so kurzer Zeit eine solche Regeneration zu beobachten. Eine Entstehung nicht aus der Embryogenese, sondern durch Regeneration. Der Mensch ist ja sehr schlecht in Sachen Regeneration. Über die Forschung können wir viel lernen darüber, wie etwa ein Schaltkreis wiederaufgebaut wird. Damit die Würmer regenerieren können, müssen die Elemente richtig identifiziert werden. Bei den Würmern geht das offenbar. Wieso nicht beim Menschen? Nicht zuletzt sind diese Tiere auch sehr nützlich zum Testen von Medikamenten oder zur Stammzellenforschung.
Ist dieser Wurm das «einfachste» Tier?
Wahrscheinlich – zumindest das einfachste Tier mit Gehirn. Die Bandbreite beginnt bei einfachen Einzellern und geht bis zu uns, den Menschen. Im Prinzip passiert während der Evolution alles zufällig, und nur was einen Vorteil verschafft, bleibt hängen. Die Evolution hat also nicht ein Ziel, wie beispielsweise immer kompliziertere Lebewesen zu schaffen. Diese Würmer hatten ebenso viel Zeit wie wir, um sich zu spezialisieren. Und sie sind nicht ausgestorben. Also machen sie etwas richtig. Aus einer Wurmperspektive kann es gut sein, dass wir evolutionär komische, nicht sehr erfolgreiche Tiere sind.
Gibt es andere Tiere, die über eine solche Regenerationsfähigkeit verfügen?
Nicht in diesem Ausmass, aber schon auch bemerkenswert. Der Zebrafisch etwa, kann auch Stücke des Auges oder des Hirns regenerieren. Bei Säugetieren und Menschen ist diese Fähigkeit fast komplett verschwunden.
Wieso können wir dies nicht mehr?
Vermutlich weil die Verknüpfung der Neuronen sehr viel komplizierter ist. Diese Würmer haben etwa 700 Neuronen. Eine Fruchtfliege bereits rund 100’000. Und der Mensch? 100 Billionen?
Und als nächstes?
Wir wollen ja rausfinden, ob der Symsagittifera roscoffensis das Urhirn war und die Genetik dahinter untersuchen. Um zu verstehen, wie ein solch komplexes Netzwerk wieder zusammenwachsen und sich regenerieren kann.
Die Forschungsresultate zum Symsagittifera roscoffensis wurden kürzlich in der Fachzeitschrift Biology Open publiziert.
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