«Grosse freiwillige Initiativen entlarven Mängel innerhalb des Systems»

«Grosse freiwillige Initiativen entlarven Mängel innerhalb des Systems»

An der Podiumsveranstaltung «Freiwilligkeit und Flucht: Arbeiten am Rand der Legalität» diskutierten eine Anwältin, ein Pfarrer und ein Schriftsteller über ihr Engagement für Geflüchtete – und darüber, was dieses über die Migrationspolitik aussagt.

«Es ist für mich alternativlos. In der Ägäis werden Menschen getötet, in Handschellen ins Meer geworfen, zu Tode geprügelt. Ich halte das nicht aus», sagte Annina Mullis gegen Ende der Veranstaltung, als sie gefragt wurde, wie sie mit dem Dilemma umgeht, dass Aktivist_innen ein Stück weit das Funktionieren des Systems mitermöglichen, indem sie die schlimmsten Exzesse abfedern.

Das interdisziplinäre Institut für Ethik und Menschenrechte der Universität Freiburg setzt sich intensiv mit dem Thema Freiwilligkeit auseinander – und zwar auch kritisch. Unter der Leitung von Regula Ludi und Matthias Ruoss läuft seit 2021 und noch bis 2025 das SNF-Projekt «Freiwilligkeit und Geschlecht: Neuverhandlung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung seit den 1970er-Jahren.» Wurde Freiwilligkeit lange schlicht als Ressource betrachtet, will das Projekt einen neuen Blickwinkel eröffnen, die Spannungsfelder aufzeigen, die sich in der Praxis ergeben – und so zu einem breiteren Dialog über die Systemrelevanz des unentgeltlichen Engagements und dessen transformatives Potenzial anregen.

In diesem Rahmen organisierte das Projektteam am vergangenen Mittwoch an der Uni Freiburg die Podiumsveranstaltung «Freiwilligkeit und Flucht: Arbeiten am Rande der Legalität». Zu den Referent_innen gehörten nebst Anwältin Annina Mullis Pfarrer Daniel Winkler und Schriftsteller Dominik Riedo. Unter der Leitung von Sarah Probst, die als Doktorandin am SNF-Projekt mitarbeitet, suchten sie Antworten auf drängende Fragen.

Welches Licht wirft es auf die Migrationspolitik, dass so viel freiwilliges Engagement überhaupt notwendig ist?
«Grosse freiwillige Initiativen entlarven Mängel innerhalb des Systems, das Fehlen einer staatlichen beziehungsweise überstaatlichen Handlung. Zivile Seenotrettung zum Beispiel füllt eine Lücke, die von den Verantwortlichen offengelassen wird», sagte Annina Mullis, die am Legal Center Lesbos an der EU-Aussengrenze Geflüchtete unterstützt, etwa in Form von Rechtsberatung oder indem sie systematische Rechtsverletzungen wie Pushbacks dokumentiert.

Eine Lücke füllt auch Daniel Winkler. Als Leiter der Freiwilligengruppe Riggi-Asyl unterstützt der Pfarrer in der Berner Gemeinde Riggisberg Geflüchtete bei der Integration – und er hilft abgewiesenen Asylsuchenden mit erschwerten Rückkehrbedingungen. «Das sind vor allem Menschen aus Eritrea. Niemand geht freiwillig in diese Steinzeitdiktatur zurück, das wissen auch unsere Behörden. Trotzdem leben die abgewiesenen Langzeitfälle innerhalb des repressiven Schweizer Nothilferegimes unter menschenunwürdigen Bedingungen. Unser Ziel ist es, ihnen ein Dasein in Würde zu ermöglichen, damit sie über die Jahre nicht in den Rückkehrzentren verelenden.» Die Krux: Indem Riggi-Asyl nach privaten Unterbringungen sucht und für die Menschen die Bussen bezahlt, die sie wegen illegalen Aufenthalts erhalten, begeben sich die Freiwilligen selbst an den Rand der Legalität. «Es tangiert das Solidaritätsdelikt im Ausländer- und Integrationsgesetz. Jeder Franken, den wir für Abgewiesene ausgeben, ist streng genommen ein illegaler Akt», erklärte Winkler. «Dass diese Form der Solidarität in der Schweiz kriminalisiert wird, ist unverständlich.»

Solidarität prägt auch den Alltag von Dominik Riedo mit. Der Schriftsteller ist Präsident des Deutschschweizer PEN-Zentrums. PEN steht für Poets, Essayists, Novelists, die Organisation setzt sich weltweit für Meinungsfreiheit ein und unterstützt Menschen, die schreiben. «Als die Taliban in Afghanistan überfallartig an die Macht zurückkehrten, wurden wir mit Anfragen von Frauen überhäuft. Innert kürzester Zeit haben wir ein grosses Projekt gestartet, um möglichst vielen von ihnen in der Schweiz Schutz zu bieten. Dazu mussten wir immer wieder mit den zuständigen Bundesbehörden verhandeln – und viel Geld auftreiben, da wir zum Beispiel die Tickets teilweise selbst bezahlen mussten.»

Bei aller Kritik an den Lücken im System, gab Daniel Winkler aber auch zu bedenken, dass es nicht gut wäre, alles den staatlichen Strukturen zu überlassen. «Zivilgesellschaftliches Engagement ist für Geflüchtete ein Gamechanger, Beziehungsnetze sind matchentscheidend. Wer in die Gemeinschaft geholt und wahrgenommen wird, fühlt sich geachtet, wer allein gelassen wird, verkümmert.»

Darf freiwilliges Engagement als nettes Plus auf LinkedIn betrachtet werden?
Ökonomisierungstendenzen machen vor dem Bereich der Freiwilligkeit nicht Halt. Darf Flüchtlingshilfe auch als Investition in die Karriere gesehen werden, als netter Eintrag für den Lebenslauf auf LinkedIn? «Ich finde es nichts Verwerfliches, wenn jemand in jungen Jahren Zeit in ein entsprechendes Projekt steckt – und das auch im Hinblick auf eine spätere Jobchance tut. Solange das freiwillige Engagement nicht total berechnend ist, finde ich gewisse Hintergedanken okay», sagte Dominik Riedo. Annina Mullis sieht das ähnlich. «Aus dem Leben streichen kann ich die Erfahrung ja nicht, es ist Teil der Biografie, ob das nun im CV drinsteht oder nicht.» Menschen in Not zu helfen dürfe durchaus eigennützig sein, sagte Daniel Winkler – und dachte dabei an eine Art Kollektivvertrag. «Wir alle können in Situationen geraten, in denen wir Hilfe benötigen. Deshalb unterstützen wir Menschen, solange wir die Ressourcen dazu haben.»

Unerlässlich findet Annina Mullis Selbstreflexion. «Es ist wichtig, das eigene Bedürfnis, etwas Gutes zu tun, beiseitestellen zu können und sich zu überlegen: Was wird tatsächlich benötigt? Und bin ich die richtige Person, um das zu tun?» Als Beispiel erwähnte sie die Situation auf Lesbos in den Jahren 2016 und 2017. «Da gab es jede Woche eine neue Freiwilligeninitiative, zeitweise waren 500 NGOs vor Ort – und damit auch Personen, die keine Ahnung hatten, was sie eigentlich tun sollten.»

Wie umgehen mit dem Dilemma, das System, das man eigentlich bekämpfen möchte, womöglich aufrechtzuerhalten, indem man Kompromisse eingeht und seine schlimmsten Fehler ausbügelt?
Die eingangs erwähnte Alternativlosigkeit prägt den Umgang mit diesem Dilemma entscheidend. Annina Mullis plädiert dennoch dafür, sich selbst und die Wirkung des eigenen Handelns ständig zu hinterfragen. «Um etwas zu erreichen, müssen wir mitunter Kompromisse eingehen. Die Frage ist immer: Wie weit sollen wir bei diesen Kompromissen gehen?» Sie hätten vor der Veranstaltung zusammen diskutiert, warum sie eigentlich nicht in die Politik gegangen seien, ergänzte Dominik Riedo. «Schliesslich hätten wir dort die Möglichkeit, etwas zu verändern. Allerdings werden in der Schweizer Politik so viele Kompromisse eingegangen, dass sich innerhalb eines Lebens nur wenig bewegt. Deshalb bevorzuge ich die direkte Hilfe, da sehe ich jeden Tag konkrete Ergebnisse. Daraus ziehe ich meine Kraft.»

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Author

Matthias Fasel ist Gesellschaftswissenschaftler, Sportredaktor bei den «Freiburger Nachrichten» und freischaffender Journalist.

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