Die Evolution hat das Sehen als unseren wichtigsten Sinn hervorgebracht. Doch wie genau funktioniert eigentlich unser Auge und welche Rolle spielt das Gehirn? Im Rahmen der «Semaine du cerveau» vom 16.-20. März 2020 haben wir Prof. Michael Schmid aus der Abteilung Medizin von der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen und Medizinischen Fakultät ausgefragt und erstaunliche Antworten erhalten.
«Ich glaube nur, was ich sehe!» – Wie sehr können wir uns auf unsere Augen verlassen?
Wir können uns tatsächlich ziemlich gut auf unsere Augen verlassen, allerdings sollten wir unserem Gehirn etwas skeptischer gegenüberstehen. Ich möchte das so erklären: Unsere Augen verfügen über eine unglaubliche Präzision, die es uns ermöglicht, einzelne Photonen, die auf unsere Netzhaut treffen, zu erkennen. Andererseits ist die Information, die unsere Augen sehen, nicht immer eindeutig. Zum Beispiel wird unsere Umgebung in den beiden Augen leicht unterschiedlich abgebildet. Das Gehirn lässt dann nur eine der beiden Abbildungen ins Bewusstsein gelangen und unterdrückt die andere Möglichkeit. Aber auch unsere Aufmerksamkeit gaukelt uns häufig eine «Wahrheit» vor, die so nicht mit der Realität übereinstimmen muss. Mit diesem Prinzip spielen etwa Zauberkünstler, die unsere Aufmerksamkeit so geschickt lenken, dass die Realität zwar nicht unserem Auge jedoch aber unserem Bewusstsein verborgen bleibt.
Liegen Farben wortwörtlich im Auge des Betrachters? Ist Ihr Blau mein Blau?
Farben setzen sich aus verschiedenen Wellenlängen zusammen, für die unsere Photorezeptoren im Auge sensitiv sind. Die Interpretation dieser Wellenlängeninformation im Gehirn ist wiederum stark vom Kontext abhängig. Vor einigen Jahren erregte das Bild #thedress in den sozialen Medien große Aufmerksamkeit. Die Betrachter stritten über die Farbe eines Kleides. Für die einen war es schwarz-blau, während es die anderen als gold-weiß beschrieben. Es zeigte sich, dass die wahrgenommene Farbe des Bildes davon abhängen kann, ob das Umgebungslicht eher gelblich oder bläulich ist und damit eher den Lichtbedingungen am Morgen oder am Abend entspricht. Solche situativen Faktoren können langfristig einen tiefgreifenden Eindruck auf unsere Wahrnehmung ausüben. So zeigte mein Kollege Pascal Wallisch von der New York University, dass Frühaufsteher #thedress eher als weiss-gelb im Sinne einer natürlichen morgendlichen Beleuchtung wahrnehmen, während Nachteulen bedingt durch starke künstliche Beleuchtung das Bild eher als schwarz-blau angeben.
Das Auge ist ein Wunderwerk der Natur. Gleichzeitig wären so viele Menschen ohne Brille aufgeschmissen. Sortiert die Evolution Kurzsichtige eigentlich aus?
Die Evolution scheint das Sehen als den vorrangingen Sinn hervorgebracht zu haben. Wenn man sich das visuelle System in verschiedenen Spezies anschaut, so ist es immer größer und komplexer geworden. Damit lässt sich erklären, warum das Sehen eine solch wichtige Funktion für uns Menschen hat. Wer eine Brille nutzt, der gleicht damit einen Abbildungsfehler auf der Netzhaut aus, der vermutlich durch genetische und Umweltfaktoren entweder die Brechkraft der Linse oder die Länge des Augapfels verändert hat. Brillen wurden vermutlich erst ab dem 13. Jahrhundert erfunden. Im Zeitrahmen der Evolution handelt es sich also um eine sehr moderne Erfindung.
Neue Technologien und Gewohnheiten bedeuten neue Reize für unsere Augen. Hat das einen Einfluss auf unser Gehirn?
In der Tat nahm die Kurzsichtigkeit vermutlich durch die Verbreitung des Buchdrucks zu. Auch in unserer modernen Zeit erleben wir eine Zunahme an Kurzsichtigkeit, die sich durch unsere vielen Arbeiten vor dem Computer unter künstlichen Lichtbedingungen zumindest teilweise erklären lässt. Welche Auswirkungen das langfristig auf unser Gehirn haben wird, lässt sich noch nicht ganz abschätzen. Wir wissen aber, dass das Gehirn oft plastisch auf neue Umweltbedingungen reagieren kann. So hat die Fähigkeit zu Lesen im Gehirn ein spezielles Leseareal in der Großhirnrinde hervorgebracht, das so bei anderen Spezies vermutlich nicht existiert und bei bestimmten Patienten, die keine Wörter erkennen können, unzureichend funktioniert. Seit einiger Zeit ist auch zu beobachten, dass die Hersteller von Smartphones und Tablets einen NightMode etablieren, weil die Befürchtung besteht, dass künstliche Beleuchtung von diesen Geräten zur Nachtzeit einen Einfluss auf die Gehirnstrukturen haben kann, die den Schlaf-Wach Zyklus regulieren.
Die meisten, die «Blindheit» hören, denken an absolute Dunkelheit. Wie nehmen Blinde die Welt wahr?
Dass Blinde sich in absoluter Dunkelheit befinden, ist eine weit verbreitete Annahme, da wir Sehenden Dunkelheit wahrnehmen, wenn wir unsere Augen schließen. In der Regel können Blinde oder Menschen mit starken Sehstörungen allerdings Licht erkennen. Es fehlt Ihnen aber die Fähigkeit zu genaueren Sehleistungen, wie das Erkennen von Farben oder Formen. Letztendlich hängt die Qualität der Sehleistung vom Ort der Sehstörung und der Art der Blindheit ab. So gibt es das Phänomen der Gesichterblindheit, bei dem die betroffenen Individuen ein voll funktionierendes Sehsystem haben, jedoch keine Gesichter erkennen können, weil das dafür verantwortliche Areal im Schläfenlappen des Gehirns bei ihnen nicht funktioniert.
Wird man eines Tages alle blinden Menschen heilen können? Wo steht die Wissenschaft?
Es gibt verschiedene Vorstellungen wie man Menschen mit Blindheit irgendwann helfen könnte. Man muss allerdings eingestehen, dass therapeutische Ansätze schon seit Langem verfolgt werden, die Ergebnisse jedoch bislang noch immer in den Kinderschuhen stecken. Verschiedene Forschergruppen versuchen an der erkrankten Netzhaut anzusetzen, etwa eine Netzhautprothese zu entwickeln, bei der die Ganglionzellen, welche die Sehsignale zum Gehirn senden, elektrisch oder optisch stimuliert werden. Ein neuerer Ansatz nutzt die Stammzelltherapie um neue Photorezeptoren zu bilden und diese in eine erkrankte Netzhaut zu integrieren. Andere Gruppen und auch wir selbst erforschen die Möglichkeit, das visuelle Gehirn optisch oder elektrisch zu stimulieren, da bei Blinden häufig der Sehnerv vom Auge zum Gehirn in Mitleidenschaft gezogen ist. Wir müssen hierbei aber zunächst klären, welche Art von visueller Wahrnehmung sich durch solch eine künstliche Stimulation des visuellen Kortex überhaupt erzeugen lässt. Hier ist Grundlagenforschung also unerlässlich und man ist noch weit davon entfernt, bei Blinden eine solche Sehleistung zurückzuholen, wie sie sie früher einmal hatten.
Es gibt ja viele Arten von Hirnverletzungen, u.a. sehen Betroffene dann doppelt. Können Sie dazu etwas sagen? Kann unser Gehirn das mit anderen, intakten Hirnregionen z.B. kompensieren?
Wenn man doppelt sieht, kann der Grund dafür in den Augen oder im Gehirn liegen. Weniger problematisch ist, wenn Alkoholkonsum oder Müdigkeit die Augenmuskeln erschlaffen lassen und es so nur temporär zu Doppelsehen kommt. Fällt diese Erklärung allerdings weg, ist es wichtig herauszufinden, ob das Doppelsehen nur mit einem Auge oder mit beiden auftritt. Betroffene sollten in jedem Fall einen Arzt zur genaueren Diagnostik aufsuchen. Bei Strabismus, landläufig häufig als ‚Schielen‘ bezeichnet, kann es durch die fehlende Gleichrichtung der beiden Augen zum Doppelsehen kommen. Vor allem bei Kindern reagiert das Gehirn und unterdrückt die ‚überflüssige‘ Nervenaktivität eines Auges. Was sich erst mal sinnvoll anhört, kann langfristig aber negative Auswirkungen auf die Sehleistung haben. Deshalb ist es auch hier wichtig, den ursächlichen Strabismus zu behandeln.
- Informationen zur Veranstaltung «Ich sehe was, was Du nicht siehst – wie im Gehirn visuelle Wahrnehmung entsteht» vom 19. März 2020. Bitte informieren Sie sich rechtzeitig, ob die Veranstaltung aufgrund des Coronavirus annulliert wird oder nicht.
- Webseite von Prof. Michael Schmid
- Webseite der «Semaine du cerveau»
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„Sortiert die Evolution Kurzsichtige eigentlich aus?“
Nein, denn das wäre ein Nachteil für die gesamte Art homo sapiens sapiens.
Für das betroffene einzelne Individuum ist Kurzsichtigkeit freilich zunächst ein Handicap.
Aber der Mensch ist ein kollektives Wesen und was dem Individuum zum Nachteil gereicht, gereicht der Gruppe/Horde/Sippe zum Vorteil:
Man bedenke: Während der allermeisten Zeit der Menschheitsentwicklung gab es keine Lupe, kein Mikroskop.
Da war es für die Gruppe von großem Vorteil, wenn es in dieser wenigstens eine Person gab, die zwar in puncto Fernsicht „untauglich“ war, dafür aber in der Nähe selbst kleine Dinge sehr viel besser sehen konnte, als der Rest der Gruppe! Noch heute wird der „kluge Doktor“ klischeehaft mit Brille dargestellt.
Insofern war Kurzsichtigkeit, die ja niemals alle betraf, ein Gruppenvorteil: Man hatte jemanden in der Gruppe, Horde, Sippe, der z.B. auch ohne Lupe (die noch garnicht erfunden war) kleinste, in die Haut eingezogene Splitter sehen und gezielt entfernen – und damit Entzündungen, ja Sepsis wirksam vermeiden konnte – es gab ja auch noch keine Tetanusimpfung!
Noch die Holzstecher (ein Grafikerberuf, der in das Hirnholz von Buchsbaum feinste Drucknegative für den Massendruck „stach“ – nicht zu verwechseln mit den Holzschneidern) waren „traditionell“ und meistenteils kurzsichtig – und damit bei ihrer filigranen Arbeit gegenüber den Rechtsichtigen lange Zeit im Vorteil – ähnlich auch die schweizer Uhrenarbeiterinnen.
D.h.: Kurzsichtigkeit ist nicht in jeder Lebenssituation ein Nachteil!
Und deshalb hat wohl da die Natur keine nennenswerten evolutionären Gegenmaßnahmen getroffen.
auch dem Nashorn ist bei 4 cm Hautdicke und mehreren tonne Gewicht seine Kurzsichtigkeit schnuppe: Es muß nicht in der Ferne nach Feinden ausschau halten, es genügt, daß es das Gras sieht, daß es unmittelbar vorm Maule hat.
So mag es wohl auch gekommen sein, daß die Evolution die Kurzsichtigen eben gerade nicht aussterben ließ.
Mit Weitsichtigen und Blinden Menschen wiederum hat es eine ähnliche Bewandtnis: Es ist nicht nur aus der germanischen Kultur überliefert, daß die Gruppe sich in schwierigen Problemlagen an „blinde Seher“ wandte und deren Rat einholte: Der eingeschränkte Sehsinn führt zu einem gegenüber „Normalen“ veränderten Wahrnehmungsspektrum und dies bedeutet, daß der Bewußtseinsfokus eines Sehbehinderten, oder Blinden möglicherweise gegenüber dem Normalen verschoben ist, sodaß er Dinge bewußt wahrnehmen kann, die den „Normalen“ schlichtweg entgehen – wir alle haben ja nur eine selektive Wahrnehmung, die die allermeisten Daten, die unsere Sinne liefern ausblenden, damit das Gehirn in der Datenflut, die unsere Sinne liefern, nicht „verrückt“ wird.
Auch diesbezüglich konnte und kann es gut sein, wenn sich in der Gruppe Individuen befinden, deren Wahrnehmungsschwerpunkt gegenüber den anderen etwas verschoben ist, sodaß von ihnen natürliche Wahrnehmungslücken der „Normalen“ abgedeckt und gefüllt werden.
Das Faszinierende ist: Was für den Einzelorganismus für sich betrachtet möglichwerweise ein Nachteil ist, wird unter kollektiven Bedingungen zum gemeinsamen evolutionären Vorteil.
Dies sei vor allem jenen Zeitgenossen zu bedenken gegeben, die in Kollektivismus, oder gar Kommunismus den Popanz schlechthin sehen … 😉