«Wir haben eine Leber»

«Wir haben eine Leber»

Organspenden werden kontrovers diskutiert. Deshalb haben Studierende zwei Expertinnen eingeladen.

Das Telefon klingelte in der Werbepause. Es war ein Sonntagabend im Oktober 2013 und Lara Beekman sass gerade mit ihrer Familie vor dem Fernseher, als die Nachricht aus dem Inselspital eintraf: «Wir haben eine Leber für Sie».

Freiburg, Ende Februar 2020. Gemeinsam mit Lucienne Christen – Koordinatorin für Organspende und Transplantation am Berner Inselspital – ist Lara Beekman Gast von «Doctors & Death», einer Gruppe der Fachschaft Medizin. Die Studierenden haben es sich zu Ziel gesetzt, Dinge zu thematisieren, die im Studium zu kurz kommen. Deshalb haben sie die zwei Frauen zu einem Themenabend über Organspenden eingeladen. Der Saal ist gut gefüllt.

«Meine Krankheit begann unscheinbar» erzählt Beekman. «Als junge Frau hustete ich Blut. Hauptsache, die Leber ist in Ordnung, hiess es damals.» Knapp drei Jahrzehnte später überkamen sie heftige Schmerzen im Bauch. Jetzt war der Befund schlimmer: ein Lebertumor. Beziehungsweise: sehr viele gutartige Lebertumore. Das Organ war in einem desolaten Zustand. Und nicht operierbar.

Ein Jahr warten auf die neue Leber
Beekman erzählt einfach, unaufgeregt und authentisch, erzählt ihre sehr private Geschichte. Über ein ziemlich gewöhnliches Leben mit einer ziemlich kaputten Leber. Einem Leben, das jedermanns Leben sein könnte. Genau deshalb hängen Zuhörerinnen und Zuhörer an ihren Lippen. «Ich wusste, dass ich an den Tumoren verbluten kann. Trotzdem entschied ich mich, möglichst normal weiterzuleben». Sie arbeitete und zog ihre Kinder gross. «Und ich merkte: Wenn’s das plötzlich war, dann habe ich ein gutes Leben gehabt».

«Natürlich habe ich mir in dem Jahr, in dem ich auf eine Spenderleber gewartet habe, oft vorgestellt, wie es sein wird, wenn eines Tages das Telefon klingelt. Als es dann soweit war, war es aber recht unspektakulär». Sie packte ihren längst gepackten Koffer, sagte ihren Kindern Gute Nacht und ihr Mann fuhr sie ins Spital.

Lange Listen, professionelle Prozesse
An der Berner Insel ist Lucienne Christen als Koordinatorin für die Organspenden zuständig. Als zweite Referentin ergänzt sie Beekmanns Bericht mit Einblicken hinter die Kulissen. Dort geschieht viel: Potenzielle Empfänger werden nach Dringlichkeit, Alter und weiteren Faktoren gelistet. Via die Stiftung «Swisstransplant» werden schweizweit für passende Organe passende Empfänger gesucht. Und selbstverständlich wird minutiös festgestellt, dass die Spender tatsächlich tot sind. An sechs Schweizer Spitälern werden derzeit Organe transplantiert. Und um das beste Resultat zu erzielen, werden sie auch zwischen den Standorten getauscht.

«Was passiert eigentlich, wenn jemand einen Organspenderausweis hat, aber seine Familie ist gegen die Organentnahme?» meldete sich plötzlich jemand aus dem Saal. «Rein juristisch betrachtet, hätte der Wille des Verstorbenen Vorrang», erklärt Christen. «De facto aber können und wollen wir uns nicht über den Willen einer Familie hinwegsetzen, die gerade jemanden verloren hat.»

Christen spricht differenziert, eindringlich und gut dokumentiert. Für jeden Schritt gibt es ein präzis definiertes Vorgehen. Die Abläufe sind hoch professionell. Was aber fast noch wichtiger ist: Christen verwendet Worte wie «Demut» oder erzählt, wie ruhig, respektvoll und konzentriert eine Organentnahme geschieht. Oder wie wichtig es ihr ist, die Anonymität der Beteiligten zu wahren.

Social Media als Problem
«Social Media ist für uns ein grosses Problem» führt die Koordinatorin aus. «Und da müssen wir unsere Empfänger in die Pflicht nehmen. Ich verstehe, dass sie sofort allen erzählen wollen: Heute habe ich meine neue Niere bekommen!. Aber in der Schweiz kennen wir uns alle über zwei Ecken. Und für die Angehörigen, die gerade jemanden verloren haben, kann es extrem belastend sein, solche Dinge zu lesen und nicht zu wissen: War diese Niere etwa von unserer Tochter?»

157 Personen haben in der Schweiz 2019 Organe gespendet. 1’415 waren auf der Warteliste für ein Organ. 582 haben eines erhalten. Und fünf Jahre nach der Operation sind im Schnitt 85% der Empfängerinnen und Empfänger noch immer am Leben.

«Habe ich eigentlich dieselben Chancen auf ein Organ wie ein gleichaltriger Raucher?», meldet sich eine weitere Stimme aus dem Saal «Ja.» «Und welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit eine Transplantation gelingt?» «Gute Frage! Das wissen wir auch nicht immer. Manchmal scheint alles zu stimmen und es klappt trotzdem nicht».

Bei Lara Beekman hat alles geklappt. Von der Operation erholte sie sich gut, die Zahl der Tabletten konnte sie bald auf eine pro Tag reduzieren. Ihre neue Leber funktioniert. In den letzten Jahren hat Beekman neue Menschen kennengelernt, sie tauscht sich mit anderen Betroffenen aus, ist Ansprechpartnerin für Wartende und Spenderfamilien. Sogar an einer Art «Paralympics» der Transplantierten hat sie mitgemacht – einem Event, bei dem dabei sein tatsächlich fast schon gewinnen ist.

Fakten gegen Fakes
Noch lang nicht gewonnen ist hingegen der Kampf um die Öffentlichkeit. «Es ist wirklich unglaublich, was alles an Lügen kursiert», ärgert sich Christen. «Dass die Leute noch gar nicht richtig tot seien. Dass wir um das Leben von jemandem mit Organspendeausweis gar nicht richtig kämpfen würden, weil wir ja die Organe wollten. Alles hanebüchener Unfug.»

«Natürlich kann man gegen die Spende sein», sagt die Koordinatorin der Insel. «Aber das ist sehr viel leichter, wenn man kein Organ braucht. Steckt man in Frau Beekmanns Schuhen, sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Sehen Sie, ich bin jetzt seit 12 Jahren dabei – und ich kann an einer Hand abzählen, wie oft jemand, der ein Organ gebraucht hätte, keines wollte. Alle andern wollen auf die Warteliste. Sogar die grossen Weltreligionen befürworten alle die Organspende! Denn wenn’s ernst wird, wollen wir alle auf die Liste.»

Dankbarkeit und ein neuer Alltag
Lara Beekman hat der Familie ihrer Spenderin einen Brief geschrieben. Das ist möglich – anonym. «Ich war froh, meine Gefühle zu Papier bringen zu können» sagt sie, «auch wenn man es nie so richtig in Worte fassen kann». Ein Jahr lang hörte sie nichts, dann meldete sich eine Tochter der Spenderin. Sie war – wie Beekmann selbst – Mutter dreier Kinder gewesen.

Heute hat Beekman wieder einen normalen Alltag. Sie schützt sich besser vor der Sonne (die Immunsuppression erhöht das Hautkrebsrisiko) und sie macht Home-Office, wenn im Büro alle husten. Und manchmal vergisst sie auch ganz einfach, dass sie transplantiert ist. «Meine Leber ist ein unglaubliches Geschenk» strahlt sie. Seit sieben Jahren geht alles gut. Garantien gibt es nicht, aber Beekman hat gelernt, damit umzugehen. «Das Leben findet jetzt statt».

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Author

War schon Wünscheerfüller, Weinbauhelfer, Unidozent, Redaktionsleiter, Veloweltreisender und kleinkünstlerischer Dada-Experte. Ist dank dem Science Slam an der Universität Freiburg gelandet.

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