Im Spannungsfeld zwischen Lehrpersonen und Schüler_innen

Im Spannungsfeld zwischen Lehrpersonen und Schüler_innen

Marc Wittwer hat für seine Masterarbeit mit dem Titel «Wie hast du es so mit der Schweigepflicht?» – Eine qualitative Studie zu den Äusserungsformen der Vertraulichkeit in der Schulsozialarbeit den Ethikpreis des Hochschulrates erhalten. Ein Gespräch über den Umgang mit Vertrauen und Vertrauensbrüchen.

Herr Wittwer, beginnen wir beim Titel: «Wie hast du es so mit der Schweigepflicht?» – Wie kam’s zu dem?
Das ist ein Zitat eines Schulsozialarbeiters. Er hatte seine neue Stelle angetreten und am Telefon fragte ihn die Schulpsychologin wie er es mit der Schweigepflicht hat. Ich fand das charakteristisch. Denn es gibt Regeln und Richtlinien – und es gibt deren individuelle Interpretation. Dieses Spannungsfeld wollte ich in meiner Arbeit ausloten.

Was tun Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter überhaupt?
Sie schaffen ein sehr niederschwelliges Beratungsangebot für Schülerinnen und Schüler. Sie sind da, wo die Kinder sind und beraten bei familiären Problemen, bei schwierigen Klassendynamiken, Mobbing, Problemen mit Lehrpersonen, etc. Oft bieten sie aber auch Präventions- und Aufklärungskurse zu verschiedenen Themen an. Der Beruf ist noch relativ neu und die Aufgaben werden lokal unterschiedlich definiert. Welche Rolle der oder die Schulsozialarbeiter/in im Schulhaus hat, hängt darum oft auch stark ab von der Schulleitung, der Organisationsform sowie von der Person, die den Job ausübt. Für mich war genau das ausgesprochen interessant.

Und diese Schulsozialarbeiter erfahren von den Kindern allerhand Informationen, über die sie schweigen müssen.
Genau, das ist gesetzlich definiert. Andererseits gibt es aber auch ein Melderecht und teilweise gar eine Meldepflicht. Wenn eine Schulsozialarbeiterin sieht, dass ein Kind gefährdet ist – zum Beispiel weil es von seinen Eltern misshandelt wird – muss sie es der KESB melden, sonst macht sie sich strafbar. Aber das ist ein Extremfall. Im Alltag gibt es sehr viel mehr Graubereiche gerade im Austausch mit den Lehrkräften. Da gibt es einen erheblichen Interpretationsspielraum, wie freigiebig man Informationen weitergibt, oder eben nicht.

Welche Kommunikationsmuster haben Sie denn da gefunden?
Man kann grob gesagt drei Kategorien machen. Zunächst gibt es jene, die vom Kind aus denken. Die sagen sich «Wenn mich ein Lehrer etwas fragt, habe ich grundsätzlich mal Schweigepflicht. Bevor ich etwas weitererzähle kläre ich immer zuerst mit dem Kind, ob ich das darf.» Das sind typischerweise die Leute, die auch drauf achten, nicht mit den Lehrern in die Pause zu gehen. Man könnte das den eher distanzierenden Ansatz nennen.

Den zweiten Ansatz nenne ich konfliktiv. Diese Leute versuchen einen Mittelweg. Sie wissen, dass sie vom Kind ausgehen müssen, sind zugleich aber auch eingebunden in ein Team. Sie versuchen, den Wünschen von Schülern und Lehrpersonen gerecht zu werden. Das ist nicht einfach und so ertappen sie sich dann oft im Nachhinein, dass sie Lehrkräften Dinge gesagt haben, die sie eigentlich nicht hätten weitergeben sollen. Ich habe beispielsweise eine Schulsozialarbeiterin interviewt, die mehrfach gesagt hat: «Ja, und dann habe ich gemerkt, Mist, das hätte ich gar nicht dürfen. Und dann habe ich dem Lehrer gesagt, er soll’s nicht weitererzählen».

Und schliesslich gibt’s den voll kooperativen Ansatz. Diese Leute sagen sich «Meine Arbeit ist eine Dienstleistung an den Lehrpersonen. Ich werde von der Schule bezahlt und wenn ein Lehrer etwas wissen will, dann sage ich ihm das auch.» Die Lösen sich von der Kinderperspektive. Und das bringt natürlich auch wieder Probleme mit sich.

Zum Beispiel?
Ein Schulsozialarbeiter erzählte von einer Schülerin, die gerade auf die schiefe Bahn geriet. Er sprach mit der Mutter und die vertraute ihm an, dass sie sich von ihrem Mann trennen werde. Sie dachte, die Tochter wisse davon noch nichts. In Tat und Wahrheit kannte die Tochter aber den Handy-Code ihrer Mutter und las deren Nachrichten, was sie dem Schulsozialarbeiter auch erzählt hatte. Sie war also im Bild. Der Sozialarbeiter hatte ein schlechtes Bauchgefühl und beschloss, mit dem Lehrer zu sprechen. Der wiederum telefonierte später mit der Mutter, die sich über die schulischen Leistungen ihrer Tochter informieren wollte. In diesem Gespräch erzählte sie dem Lehrer, dass sie sich trennen werde – worauf der Lehrer sagte «Ja, ich weiss, ich habe davon gehört».

Uff.
Die Mutter war stinksauer auf den Sozialarbeiter. Der wiederum konnte aber natürlich nicht sagen, dass die Tochter die SMS liest. Eine ganz schwierige Situation.

Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter bewegen sich also in einem Spannungsfeld an Ansprüchen. Haben Sie herausgefunden, wie sie damit am besten umgehen?
Ich glaube nicht, dass es nur einen richtigen Weg gibt. Die Lösung ist vielmehr, dass man sich dieses Spannungsfelds bewusst ist und sich Gedanken macht, wie man sich darin positioniert. Wenn man das geklärt hat, gibt es Techniken, die man anwenden kann. Wenn mich ein Lehrer etwas fragt, kann ich sagen, «Sorry, Schweigepflicht» und dann mit dem Kind besprechen, was ich ihm sagen darf und was nicht. Oder ich sage «Sorry, ich muss grad ins Büro» und gewinne so Zeit, um zu überlegen, was ich ihm antworte. Oder ich sage ihm «Komm in mein Büro und wir besprechen die Frage dort». Oder wenn ich ganz offene Atmosphäre kreieren will, beantworte ich ihm die Frage gleich auf dem Gang.

Es gibt kein richtig oder falsch, aber es hilft, wenn man ein klares Konzept hat. Gerade weil in der Schulsozialarbeit vieles noch nicht so genau definiert ist, sollte man seine berufliche Rolle immer wieder reflektieren – sei’s allein für sich oder in Inter- und Supervisionen. Was steht in den Richtlinien? Was im Ethikkodex? Arbeite ich jetzt noch als Schulsozialarbeiter oder einfach für die Lehrkräfte? Gute Beziehungen mit Lehrpersonen, Schulleitung, Schulpsychologen, KESB, etc. sind wichtig, aber man sollte sich auch nicht anbiedern.

Es braucht eine professionelle Linie. Hat man die nicht, gerät man ins Schlingern. Und wer schlingert, der ist für die Kinder nicht berechenbar. Dann vertrauen sie einem nicht und ohne das Vertrauen der Kinder kann man keine Schulsozialarbeit machen.

Letzte Frage: Was bedeutet der Preis für Sie?
Er ist eine schöne Anerkennung. Eine akademische Laufbahn habe ich aber trotzdem nicht eingeschlagen. Ich arbeite inzwischen beim BAG, da wird einem im Moment auch nicht langweilig. Mit dem Preisgeld werde ich vermutlich eine schöne Reise machen und endlich mal unbesorgt Steuern zahlen (lacht).

Author

War schon Wünscheerfüller, Weinbauhelfer, Unidozent, Redaktionsleiter, Veloweltreisender und kleinkünstlerischer Dada-Experte. Ist dank dem Science Slam an der Universität Freiburg gelandet.

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