Mit dem Genderpreis werden Master-, Doktorarbeiten und andere wissenschaftliche Publikationen ausgezeichnet, welche eine Gender-Fragestellung in den Fokus rücken. Das hat Anna Maria Koukal vom Departement für Volkswirtschaftslehre gemacht und wurde deshalb mit sFr. 3000.- prämiert. Im Rahmen des Internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen haben wir mit der Forscherin über Schweizer Politik und Mitbestimmung gesprochen.
Wie fühlt es sich an, für die eigene Arbeit mit dem Genderpreis ausgezeichnet zu werden?
Natürlich habe ich mich sehr über den Genderpreis 2020 gefreut und diese Nachricht hat mich zusätzlich für die Arbeit an meinen laufenden Forschungsprojekten motiviert. Interessanterweise ist das übrigens genau das, was die ökonomische Theorie über Awards sagen würde, nämlich dass Preise und Auszeichnungen das Potential haben, intrinsische Motivation zu verstärken. Da man als Wissenschaftler_in meistens ein kleines fachspezifisches Publikum hat und intensiv mit seinem Team an der Forschung arbeitet, ist es zudem schön, wenn die eigene Forschung auch für ein breiteres Publikum interessant ist. Zumal sich meine Forschung mit politischen Mitspracherechten für Frauen, Jugendliche und Ausländer _innen beschäftigt, freue ich mich auch über Gelegenheiten diese aktuellen Forschungsfragen interdisziplinär zu diskutieren.
Das Thema Ihrer Arbeit in einem einzigen Satz (oder in einer einzigen Frage) …
Unter welchen Bedingungen sind Bürger_innen bereit, ihren politischen Einfluss mit neuen Gruppen zu teilen – und welche Auswirkungen hat das?
Wie sind Sie auf das Thema Ihrer Dissertation gekommen?
Die Schweizer Institutionen, insbesondere die ausgeprägte Direkte Demokratie mit ihren vielfältigen Einflussmöglichkeiten, hat mich schon immer fasziniert. Gleichzeitig haben Frauen in fast keinem anderen Land so lange auf das Stimmrecht gewartet wie in der Schweiz. Diesen Gegensatz aus stark ausgeprägten demokratischen Institutionen, die aber eine lange Zeit nur Männern vorenthalten waren, wollte ich besser verstehen. Zu diesem Zweck habe ich einen neuen Datensatz für den Zeitraum 1947 – 1990 zusammengetragen, der um die 100 Abstimmungen zur Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz auf Gemeindeebene zusammenfasst. Nicht nur die politische Integration von Frauen interessiert mich, in meiner Forschung befasse ich mich zudem mit der politischen Integration von Ausländer_innen und Jugendlichen. Diese wird in der aktuellen politischen Debatte prominent diskutiert.
Wo ist Ihre Arbeit innerhalb Ihrer Fachdisziplin zu verorten und wo besteht noch Entwicklungsbedarf in Bezug auf Themen wie Gender und Feminismus?
Meine wissenschaftlichen Arbeiten lassen sich im Bereich der politischen Ökonomie verorten. Allerdings sind die Schwerpunkte der einzelnen Projekte sehr unterschiedlich. Beispielsweise beschäftige ich mich in einem Projekt mit der Rolle von kultureller Führung (in meinem Fall dem Papst) auf die geäusserten Präferenzen der Schweizer Männer zur Einführung des Frauenstimmrechts. Meine empirischen Analysen zeigen, dass sich katholische Männer durch die Reformen des zweiten Vatikanums viel stärker für das Frauenstimmrecht öffnen als protestantische Männer. Dieser Effekt ist dort besonders ausgeprägt, wo der Bezug zum zweiten vatikanischen Konzil besonders stark ist. Bisher wissen wir noch relativ wenig darüber, wie sich Verhaltensänderung von kulturellen Vorbildern oder Eliten auf die geäusserten Präferenzen der Gruppenmitglieder auswirkt und welche Mechanismen dabei mitspielen. Gerade im Zusammenhang mit Minderheitsrechten gibt es hier also noch viel Forschungsbedarf.
Wie kommt es, dass Mitbestimmung so stark an Einbürgerung gebunden ist?
Tatsächlich orientiert sich formale politische Mitsprache noch stark am Prinzip der Staatsbürgerschaft. Ein Argument für die Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und politischer Mitsprache ist, dass man sicherstellen möchte, dass politische Entscheidungen mit einer langfristigen (nachhaltigen) Perspektive getroffen werden und ein gutes Verständnis des politischen Systems vorhanden ist. Die heutigen Gesellschaften sind aber viel mobiler als sie es noch vor 100 Jahren waren. Das führt dazu, dass heute ein grosser Teil der Bevölkerung von der politischen Mitbestimmung – zumindest partiell – ausgeschlossen ist. Studierende sind übrigens besonders häufig von fehlender politischer Mitsprache betroffen, da sie viel mobiler sind als die Durchschnittsbevölkerung und deshalb auch häufig im Ausland leben. Die voranschreitende internationale Mobilität führt auch dazu, dass ein wachsender Anteil der Steuerzahler_innen zwar Steuern bezahlt, aber keine Mitsprache über deren Verwendung hat. Dies lässt die starke Konzentration auf die Staatsbürgerschaft jedoch allmählich bröckeln. Bereits heute existieren schon in einigen Schweizer Kantonen politische Mitspracherechte für Ausländer_innen und in der EU haben alle EU- Bürger_innen automatisch politische Rechte auf der kommunalen Ebene. Es könnte also gut sein, dass wir hier in den nächsten Jahrzehnten Veränderungen sehen werden.
Welche (positiven) Entwicklungen beobachten Sie in Bezug auf die Integration bzw. Inklusion von weniger vertretenen Gruppen wie Immigrant_innen oder junge Menschen?
In unserer Forschung haben wir uns die Frage gestellt, wie sich die politische Integration von Immigrant_innen auf die Schweizer_innen auswirkt. Die Ergebnisse sind erstaunlich. Unsere Daten zeigen, dass Schweizer_innen, die in Gemeinden mit Ausländer_innenstimmrecht leben, nach der Einführung des Stimmrechts zufriedener mit der Demokratie sind und sich ihre Einstellung gegenüber den dort lebenden Immigrant_innen verbessert. Interessanterweise deuten unsere Resultate darauf hin, dass dieser Effekt dort am ausgeprägtesten ist, wo die Ablehnung gegenüber dem Ausländer_innenstimmrecht besonders hoch war.
Bei einer aktuellen Forschungsarbeit analysierten wir zudem das politische Engagement von Frauen und Männern nach der Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts 1959. Interessant ist, dass die Wahlbeteiligung der Frauen zunächst nur bei rund 15% lag. Erst über die Zeit nimmt sie langsam zu, wobei die Zunahme in Gemeinden mit ausgeprägter direkter Demokratie etwas stärker ist. Auf der anderen Seite beobachten wir, dass durch die Einführung des Frauenstimmrechts die Politik für Männer weniger attraktiv zu werden scheint. In verschiedenen empirischen Tests finden wir, dass nach der Einführung des Frauenstimmrechts das politische Engagement der Männer stark abfällt. Dies erinnert an die Arbeitsmarktliteratur, die einen sogenannten Entwertungseffekt von Berufen findet, die sich für Frauen öffnen. Wir wollen nun der Frage nachgehen, ob sich dies auch auf die Politik übertragen lässt.
Fast 50 Prozent der neuen Abgeordneten in Neuseelands Parlament sind Frauen, rund 10 Prozent stammen aus der LGBT+ Community und 16 Parlamentarier_innen sind Māori. Ausserdem sind erstmals Menschen mit einem afrikanischen und lateinamerikanischen Hintergrund mit dabei. Was macht Neuseeland richtig oder anders? Und wie lässt sich mehr Vielfalt ins Schweizer Parlament bringen?
Vielfalt ist ein gutes Stichwort! In der Tat könnte Vielfalt in der Politik zu neuen Ideen und verstärktem Wettbewerb von politischen Konzepten führen und dadurch unter bestimmten Bedingungen die Qualität von politischen Entscheidungen verbessern. Neuseeland könnte uns hierfür spannende Daten liefern. So zeigt sich in manchen Arbeiten, dass Frauen in der Politik wichtige Vorbildfunktionen für andere Frauen sein können. Unter welchen Bedingungen sich diese Vorbildfunktion materialisiert, ist eine spannende und noch nicht ausreichend beantwortete Forschungsfrage. Wichtig ist, dass der politische Prozess möglichst alle Interessen – auch die von Minderheiten – berücksichtigt. Während in Neuseeland die Vielfalt im Parlament schon konkret sichtbar ist, läuft der Mechanismus in der Schweiz vor allem über die Institutionen. Durch Proporzwahlen im Nationalrat und in den kantonalen Parlamenten werden eine Vielfalt von Interessen abgebildet, welche über die Möglichkeit zur direkt demokratischen Beteiligung ergänzt werden. Allerdings laufen diese Mechanismen fast ausschliesslich über formale politische Stimmrechte.
Ein Ergebnis, welches sich sowohl für die Einführung von Frauen-, Ausländer_innen- und auch Jugendstimmrecht gezeigt hat, ist, dass Menschen weniger bereit sind, ihre politischen Rechte zu teilen, wenn sie viel Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen können. Vereinfacht gesagt: je mehr Einfluss ich persönlich auf politische Entscheidungen nehmen kann, desto teurer ist die Integration neuer Wähler_innengruppen. Da das Schweizer Stimmvolk über Abstimmungen bzw. Wahlen Einfluss auf die Vielfalt der politischen Landschaft ausüben kann, könnte man an diesem Kostenhebel ansetzen. Deshalb haben wir in einem ersten Schritt ein Mitspracherecht vorgeschlagen. Was Ausländer_innen, Auslandschweizer_innen und Jugendliche politisch wünschen und denken, ist wichtig und kann der Politik bedeutende Impulse geben. Denn Demokratie dient nicht nur der Aggregierung individueller Präferenzen zu gesellschaftlichen Entscheidungen, sondern der Formung informierter individueller Präferenzen. Zu den Mitspracherechten könnten zuallererst volles Initiativ- und Referendumsrecht gehören. So könnten Gruppen, die bisher von vollen politischen Rechten ausgeschlossen sind, ihre Ideen in den Diskurs einbringen, wobei die bisherigen Wähler_innen etwas über das politische Verhalten dieser Gruppen lernen könnten.
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- Webseite von Anna Maria Koukal
- Informationen zum Dies academicus 2020
- Informationen zum Genderpreis
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