«Ich empfinde eine gewisse Zärtlichkeit für die Andersartigkeit»

«Ich empfinde eine gewisse Zärtlichkeit für die Andersartigkeit»

Sabine Haupt setzt sich als Wissenschaftlerin mit Literatur auseinander – gleichzeitig ist sie selbst Schriftstellerin. Ein Gespräch über Grenzverletzungen im Leben und im Schreiben.

Sabine Haupt, Sie sind Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Wie kam es dazu?
Schriftstellerin war mein allererster Berufswunsch. Da war ich fünf, konnte noch gar nicht schreiben, habe mir aber Geschichten ausgedacht. Und meine Mutter tippte sie in ihre uralte, riesengrosse Olivetti-Schreibmaschine. Obwohl ich aus einer kulturell nicht speziell gebildeten Familie komme, scheint dieser Beruf der Schriftstellerin eine frühkindliche Geschichte zu sein.

Zuerst wurden Sie dann aber Literaturwissenschaftlerin.
Ja, neben Theaterwissenschaften habe ich Germanistik studiert. Dann wurde ich schwanger. Wir fanden in München kein Auskommen und sind darum nach Genf gegangen. Dort habe ich mich auf die Germanistik konzentriert. Das waren die langen, langen Jahre, in denen es ums Überleben ging. Ich war jung, hatte ein Baby und einen kranken Mann. Es war eine harte Zeit. Heute staune ich, wie ich aus diesen Schwierigkeiten herausgekommen bin. Eine Frau mit Kind wurde damals viel weniger unterstützt als heute; ein Kind wurde gerade auch im Berufsleben vor allem als Hindernis gesehen. Die Kollegen an der Uni sollten darum gar nicht wissen, wie kompliziert mein Privatleben war.

Seit Sie 2015 mit ihrem Erzählband «Blaue Stunden. Kleine Quadratur der Liebe» als Schriftstellerin an die Öffentlichkeit getreten sind, interessieren Sie vermehrt auch als Privatperson. Wie gehen Sie damit um?
Ich denke, das eine ist, offen zu sein und möglichst ehrlich. Daneben steht aber auch der Wunsch, nicht zu kippen in eine Art von Selbstdarstellung. Viele Autoren stilisieren sich sehr stark, um sich zu verkaufen. Sie machen aus der Notwendigkeit, sich zu äussern, eine Tugend. Ich weiss noch nicht, wie sehr man sich vor diesem Spiel schützen kann. Die völlige Trennung zwischen Privatem und Beruflichem ist nicht möglich. Mein Leben ist ein Labyrinth von Entwicklungen. Erst im Nachhinein kriegt das Ganze eine Kohärenz, die ich in der Situation selber gar nicht sah.

Ihre Vita zeugt von vielseitigen Interessen an Gesellschaft, Kultur und Politik. Sie wuchsen im Deutschland der 1960er und 1970er Jahre auf, «das war die Zeit», ich zitiere aus Ihrer Website, «in der die 68er zum Glück ein paar Schneisen ins Dickicht der Nachkriegszeit schlugen». Wie hat Sie die 68er-Bewegung geprägt?
68, das ist für mich das Jahr, in dem meine Mutter starb. Die politische Dimension spielte also vorerst keine Rolle. Ich habe erst die Nachwirkungen gespürt: Als 15-Jährige war ich das jüngste Mitglied in einem Chile-Unterstützungskomitee. Ebenfalls aktiv war ich in einem Jugendzentrum. Dieses Engagement ist mir geblieben. Jahre später sass ich dann für die Grünen im Genfer Grossrat. Die Politik wäre auf Dauer aber nichts für mich gewesen, dafür war ich zu sensibel und auch zu ungeduldig. Aber in meinem Blog schreibe ich über Literatur und Politik. Das ist heute mein Weg, mich in die Diskussion einzubringen.

Eine Art Diskussionszirkel sind auch Ihre Seminare an der Uni. Sie setzen dabei auf Textkenntnis und die Begeisterung für die Sache. Ihre Studierenden sagen, Sie liessen ihnen Flügel wachsen, statt sie zu stutzen. Entspricht Ihnen dieses Bild?
Ja, auf jeden Fall. Das entspricht meinem Menschenbild generell. Ich lerne von den Studierenden, von ihren Fragen, und erlebe sie als äusserst kritisch und interessiert. Es geht mir ja nie um die Vermittlung von Faktenwissen, sondern immer um das Puzzle der Kultur, das jeder für sich selbst zusammensetzen muss.

Wie reagierte Ihr berufliches Umfeld darauf, dass Sie nun auf einmal als Schriftstellerin auftreten? Ihre Zunft lebt von der nüchternen und objektiven Auseinandersetzung mit Literatur.
Was die Kollegen von der Uni auszeichnet, ist ihre unglaubliche Diskretion. Es fielen mir vor allem viele Nicht-Reaktionen auf. Zum Teil hörte ich von Leuten, denen ich mein Buch geschenkt hatte, gar nichts. Lustig war auch die Verwunderung: Es staunte manch einer, dass ich als positiver Mensch so traurige oder unheimliche Geschichten schreibe. Da sagte ich jeweils: Mensch, es gehört doch zum Kern dessen, was wir den Studierenden vermitteln, dass literarische Texte nicht autobiographisch zu lesen sind! Es gab aber auch viel Lob und Interesse, vor allem auch für meine Lesungen.

Sie scheinen glücklich zu sein über Ihren Erfolg als Schriftstellerin.
Als Schriftstellerin habe ich so viele Freiheiten! Man hat ja nur ein Leben, aber als Autorin kann ich Alternativen durchspielen. Mich fragen, wie es anders hätte laufen können, hätte es nur eine kleine Verschiebung gegeben. Dieses Spiel reizt mich. Es macht mich einfach wahnsinnig glücklich, wenn dann diese andere Welt im Kopf entsteht.

Sitzt Ihnen als Wissenschaftlerin nicht eine Stimme im Nacken, die während des Schreibens gleich mitanalysiert?
Doch, aber ich erlebe das als Vorteil. Ich schreibe ja nicht aus dem Bauch heraus. Künstler stülpen nicht ihr lebendiges Inneres nach aussen und auf ein Blatt Papier, so ist es nicht. Mein Kopf hilft mir, aus den Emotionen Literatur zu machen. Schöne, besondere oder schockierende Sätze zu formulieren.

Was interessiert Sie am Menschen, was wollen Sie an ihm literarisch ergründen?
Mich interessiert die Vielfalt. Ich verkehre in meinem Leben in so unglaublich verschiedenen Kreisen. Ich habe eine Lebenserfahrung der Vielseitigkeit. Es geht mir nicht um ein vordergründiges Respektieren des Anderen. Ich suche immer nach der Grundidee eines Menschen. Es treibt mich nicht nur die Neugier an, sondern auch so etwas wie Empathie. Ich empfinde eine gewisse Zärtlichkeit für die Andersartigkeit.

Ein Motiv in Ihren Texten ist die Auseinandersetzung zwischen den Geschlechtern: Es geht um die intellektuelle, emotionale, sexuelle Annäherung und Entfremdung. Sind Sie eine Feministin?
Ja. Es gibt verschiedene Generationen von Feministinnen. Die erste forderte Gleichberechtigung. Die zweite suchte die Romantisierung der Weiblichkeit. Da ging es darum, anders zu sein als die Männer. Ich habe einen Heidenrespekt vor Alice Schwarzer, aber sie ist auf einem Auge blind. Und da greift nun die dritte Generation, in der Feministinnen einstehen für eine freie Sexualität. Ich stehe mit einem Bein im frühen und mit dem anderen im dritten Feminismus. Wir Frauen haben eine Sexualität, die wir ausleben dürfen und können. Ich gehöre zu einer Frauengeneration, die irrsinniges Glück hatte. Es hat sich viel getan seit 68, aber trotzdem: Eine echte Gleichberechtigung ist immer noch nicht erreicht.

«Die Liebe und der Hunger beginnen mit einer Grenzverletzung.», schreiben Sie in einer Erzählung. Ich habe den Eindruck, dass es in Ihrer «Kleinen Quadratur der Liebe» oft um Grenzverletzungen zwischen den Menschen geht. Stimmt das?
Das freut mich sehr, wenn Sie das so sehen. Das ist nämlich der Link zwischen meinem Denken als Literaturwissenschaftlerin und meinem Denken als Schriftstellerin. In der modernen Kunst geht es immer auch um Grenzerweiterungen. Nach meinem Verständnis ist das der Schlüssel zur Moderne.

Ist durch die Grenzerweiterung auch die Toleranz grösser geworden? In der Kunst und in der Gesellschaft?
Das ist eine schwierige Frage. Es ist schwer, etwas über die Gesellschaft im Allgemeinen zu sagen. Sie driftet im Moment sehr auseinander. Insgesamt ist sie wohl toleranter geworden. Gleichzeitig kommen – etwa im Zusammenhang mit der Asylfrage – Denkmuster wieder auf, die ich für überwunden hielt. Trotzdem glaube ich, dass die momentane Untergangsstimmung übertrieben ist. Ich bleibe optimistisch.

Staunen Sie manchmal über sich selbst?
Ich staune manchmal im Nachhinein, wie ich das damals geschafft habe mit dem Leben: so jung, in einem fremden Land und einer fremden Sprache. Heute bin ich in diesem Leben, das sich wie zufällig aus so vielen Dingen ergeben hat, zuhause. Rückblickend auf die letzten Jahre staune ich auch darüber, was sich alles neu eröffnet hat. Es geht mir momentan ein bisschen so wie mit dem Roman, den ich gerade schreibe: Ich bin an einem Punkt, an dem ich ganz viele Türen aufgemacht habe. Nun muss ich schauen, dass ich einige davon wieder zu kriege.

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Sabine Haupt ist 1959 in Giessen (Deutschland) geboren, lebt seit 1980 in der Westschweiz und hat zwei Töchter. Sie ist Titularprofessorin und unterrichtet als Lehr- und Forschungsrätin (MER) für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg. Ausserdem arbeitet sie als Journalistin und Schriftstellerin. 2015 erschien ihr zweiter Erzählband «Blaue Stunden. Kleine Quadratur der Liebe» im Offizin-Verlag, Zürich. Weitere Informationen auf ihrer Homepage.

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Pascale Schaller interessiert sich als Linguistin für Sprachliches aller Art. Sie arbeitet in der Forschung und in der Lehre und sieht es als Herausforderung, wissenschaftliche Themen einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

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