Dossier

Zwischen gesundem Vergessen und Demenz

Demenz ist für viele zum Damoklesschwert des Alterns geworden. Für den Biologieprofessor Simon Sprecher ist das Vergessen auch ein Pendant zum Erinnern.

Demenz – es ist ein furchtbares Wort, es schreckt uns wie nicht viele andere. Auch etymologisch ist die Sache so simpel wie heftig, dement sein heisst schlicht: ent-geistigt sein, buchstäblich: den Verstand verlieren – oder noch passender im Englischen: losing your mind. Das will niemand, und darum verwundert es auch nicht, dass man in Umfragen oft zu hören bekommt, dass wir uns heute nicht unbedingt vor dem Alter an sich fürchten, aber umso mehr von dieser Begleiterscheinung, die uns die Autonomie raubt, auf langsame und unaufhaltsame Weise. Unsere Angst gilt nicht in erster Linie dem körperlichen, sondern dem geistigen Zerfall. Und die Gefahr ist real: In der Schweiz leben laut jüngsten Schätzungen des Vereins Alzheimer Schweiz rund 150’000 Menschen mit Demenz – bis 2050 sollen es doppelt so viele sein. Nicht weil da eine Epidemie grassiert, sondern weil wir immer älter werden, und laut dem Verein ist nun einmal «das grösste Risiko das Alter».

Umso mehr wundert man sich, wenn man hört, wie Simon Sprecher an die Demenz herangeht, auf genetisch-zellbiologischer Ebene: Er erforscht die zellulären Mechanismen des Vergessens – und er tut das zunächst einmal ohne jede Wertung, oder medizinisch gesagt: Er geht nicht davon aus, dass Vergessen unerwünscht, geschweige denn pathologisch ist. Im Gegenteil.

«Wenn wir nichts vergessen könnten, dann wäre das Gehirn sehr schnell überlastet.» Wobei man beim Diskutieren mit ihm merkt, dass Vergessen an sich ein etwas unscharfes Konzept ist. Meinen wir damit das Löschen einer Information oder meinen wir ein Nicht-Lernen? Das sei letztlich ein semantischer Unterschied. Der aber womöglich auf molekularer Ebene nachvollzogen werden kann. So jedenfalls das Ziel von Sprechers Forschung: Schritt für Schritt verstehen, wie Erinnern und wie Vergessen funktioniert.

Die Angelegenheit ist für einen Biologen zunächst einmal deshalb interessant, weil «wir ganz gut verstehen, wie Gedächtnisprozesse funktionieren, im Gehirn» und welche genetischen Faktoren dabei eine Rolle spielen. Das Vergessen dagegen ist kaum erforscht. Was geht da genau vor sich im Gehirn, wenn eine Erinnerung, etwas Eingeprägtes wieder verloren geht? Man erinnert sich vielleicht an den Film «Eternal Sunshine of the spotless mind», in dem eine Maschine zum Löschen (unliebsamer) Erinnerungen eine zentrale Rolle spielt. Das funktioniert da offenbar mit elektrischen Impulsen, entsprechend der gängigen Idee, dass das Hirn ein wenig so funktioniert wie ein Computer und dass Speicherprozesse auch mit elektrischen Signalen und synaptischen Verbindungen zu tun haben. Vergesslichkeit wäre dementsprechend ein Fehler im System, im harmlosen Fall ein chemisch elektrischer Lapsus, im schlimmeren eine Neurodegeneration auf breiter Front, ein Verlust an Neuronen und Synapsen. Memory Error, Information nicht gefunden. Der spannende Ansatz von Sprecher: Er betrachtet Vergessen als ein Pendant des Erinnerns, und deshalb spricht er dem Vorgang eine ebenso aktive Rolle zu, mit entsprechenden biologischen Mechanismen und genetischen Bedingtheiten. Also weniger Fehler, sondern Filter.

«Vergessen ist ein Prozess, der normal und wichtig ist, der aber auch zu Demenz führen kann.» Es könnte also sein, dass da im Alter nicht einfach etwas langsam degeneriert, dass uns die Erinnerungsfähigkeit allmählich abhandenkommt, sondern eher, dass da etwas aus der Balance gerät. Dass also das Vergessen überhandnimmt, wofür auch spricht, dass sich im Verlaufe der Krankheit immer länger zurückliegende Gedächtnisinhalte verlieren. Das erinnert ein wenig an Alterungsprozesse, die man seit einiger Zeit auch nicht mehr bloss als biologischen Fluch ansieht. Stattdessen realisiert man, dass sie auf zellulärer Ebene auch viele Vorteile haben – Zellalterung ist eminent wichtig für einen gesund funktionierenden Organismus. Entsprechend könnte man sagen: «gut» vergessen zu können ist eminent wichtig für das Gehirn. Sprecher und seine Gruppe wollen besser verstehen, wie das genau vonstatten geht, auf molekularer Ebene. Vermutlich kommt es im Alter zu Störungen bei diesen Mechanismen – und bestenfalls könnte man diesen Störungen dann auch klinisch begegnen. Offen ist, inwiefern das auch mit anderen kognitiven Problemen zusammenhängt, die bei fortschreitender Demenz auftreten (Wortfindungsstörungen, Rechenstörungen oder auch Störungen der Raumwahrnehmung).

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Insofern ist es nur schlüssig, dass die Gruppe Mechanismen des Erinnerns ebenso erforscht wie Mechanismen des Vergessens. Aber dazu muss man sie erst einmal besser verstehen, in Entsprechung zum Erinnern. Unlängst hat die Forschungsgruppe wichtige Mechanismen im Zusammenhang mit dem Langzeitgedächtnis enträtselt, auf molekularer Ebene – zumindest bei Fruchtfliegen. Es mag schon sein, dass das Denken eine Sache von elektrischen Signalen ist, aber wenn wir uns etwas merken, dann passiert da auch eine Menge Biochemie. Oder sogar genetische Regulation, beim Langzeitgedächtnis. Für das Kurzzeitgedächtnis sind die rasch reagierenden biochemischen Signalwege inzwischen recht gut erforscht, doch beim Langzeitgedächtnis gibt es noch grosse Lücken im Verständnis. Es sind zwar schon viele Gene identifiziert worden, die mit Lernen und Gedächtnisbildung zu tun haben, aber man weiss kaum etwas über die genetischen Mechanismen, die für die Veränderung des Transkriptionsprogramms während der verschiedenen Phasen der Bildung des Langzeitgedächtnisses (LTM) erforderlich sind. Diesen Veränderungen im Transkriptionsprogramm spürte die Forschungsgruppe nach, indem sie die Genexpression im Gehirn von Fruchtfliegen  verfolgten, über einen Zeitraum von 48 Stunden nach einem Geruchstraining. Dabei konnten sie zwei Gene (vajk-1 and hacd1) als Gedächtnis-Gene identifizieren.

Klar ist: Erinnerungen in das Langzeitgedächtnis einzuschreiben verbraucht einiges an Energie – aus evolutiver Sicht ist es deshalb nachvollziehbar, dass wir uns nur an Wesentliches und Prägnantes lange erinnern können. Umgekehrt kann es aber auch wichtig sein, solche prägnanten Lektionen wieder umschreiben zu können, wenn es die Erfahrung erfordert. Sprecher würde deshalb auch gern den Übergang vom Kurz- zum Langzeitgedächtnis genauer studieren. «Ich erinnere mich einen Moment lang vielleicht noch an die Farbe der Türe, die ich eben angeschaut habe», erläutert es Sprecher und wird beim Weitererklären rasch wieder philosophisch: Bald ist diese Erinnerung allerdings verwischt, «die Information war also da, obwohl sie gar nicht da war.»

Neben solchen Prozessen studiert die Gruppe ebenfalls, inwiefern Vergessen auf molekularer Ebene mit sogenannten Amyloiden zusammenhängt. Diese Aggregationen von speziellen Proteinen spielen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Alzheimer – und man weiss, dass die häufigste Ursache einer Demenz die Alzheimer-Krankheit ist. Sprechers Gruppe konnte unter anderem zeigen, welchen Einfluss die Aktivierung von Genen, die zu solcher Amyloid-Bildung führen, auf das Vergessen von Gerüchen bei Fliegen hat und welche Rolle der Schlaf dabei spielt. Insgesamt befinde sich das alles noch im Grundlagenforschungsstadium, sagt Sprecher, konkrete klinische Anwendungen seiner Forschung seien noch nicht in Sicht. Aber Studien an Drosophila seien ein guter Einstieg, vor allem um genetische Faktoren zu verstehen, da sich die Fliegen leicht genetisch modifizieren lassen und man die entsprechende Wirkung untersuchen kann. Eins zu eins lassen sich die Hirnfunktionen von Fruchtfliegen und von Menschen natürlich nicht vergleichen, aber es sieht einiges danach aus, als käme dem Vergessen in unseren Köpfen eine viel wichtigere Rolle zu, als wir gemeinhin annehmen.

Und wenn wir diese Rolle erst einmal besser verstehen, dann verliert vielleicht auch die Demenz eines Tages ihren Schrecken, dann finden wir Wege, sie therapeutisch zu kontrollieren.

Unser Experte Simon Sprecher ist Professor für Neuro­biologie am Departement für Biologie der Universität Freiburg. Er erforscht die Frage, wie das Gehirn Informationen aufnimmt und verarbeitet.
simon.sprecher@unifr.ch