Fokus

Schwung für den Schuldienst

Er hat eine bewegte Vergangenheit – und blickt in eine spannende Zukunft: Der Regionale Schuldienst für Deutschfreiburger Schulen. Gespräch mit der neuen Direktorin Chantal Hinni und ihrem Vorgänger und Direktor des Heilpädagogischen Instituts, Gérard Bless.

Chantal Hinni, Sie haben zu Beginn des Jahres die Leitung des Regionalen Schuldienstes übernommen. Erstes Fazit?

Chantal Hinni: Ich bin schon lange am Departement für Sonderpädagogik tätig. Hier habe ich meinen Master gemacht und auch promoviert. Diese Verbundenheit und die über lange Jahre erworbenen Kenntnisse haben mir geholfen, die neue Herausforderung anzupacken. Ich erhalte auch viel Unterstützung von Kolleg_innen und natürlich von Gérard, meinem Vorgänger. Fazit: Mein Start war gut. Ich bin angekommen.

Sie, Gérard Bless, haben den Chefsessel am Regionalen Schuldienst abgegeben.

Gérard Bless: Und auch dies fühlt sich sehr gut an. Ich habe diese Leitung neben der Professur gemacht und neben der Direktion des Heilpädagogischen Instituts, die ich nach wie vor innehabe. Das war nicht mehr zeitgemäss mit so vielen Mitarbeiter_innen. Es ist eine grosse Erleichterung, diese Verantwortung nun abgegeben zu haben. So kann ich mich vermehrt auf laufende Forschungsprojekte konzentrieren und den Dissertationen und Masterarbeiten, die ich noch betreue, etwas mehr Zeit widmen bis zu meiner Pensionierung im Sommer 2023.

Was sind die Aufgaben des Schuldienstes?

Chantal Hinni: Der Dienst bietet Schüler_innen des deutschsprachigen Teils des Kantons Freiburg einen logopädischen, schulpsychologischen und psychomotorischen Dienst an. Das Angebot steht allen Schüler_innen über die obligatorische Schulzeit zur Verfügung und ist unentgeltlich. Aktuell umfasst der Schuldienst rund 50 Mitarbeitende aus den drei genannten Bereichen.

Die Leitung des Schuldienstes klingt nach einer organisatorischen und administrativen Herausforderung.

Chantal Hinni: Das kann man sagen. Es stehen aber Veränderungen bevor, die diese Arbeit erleichtern sollten. Wir sind dabei Fachpersonen zu rekrutieren aus der Psychomotorik, der Schulpsychologie und der Logopädie, um die drei Bereiche mit jeweils einem oder einer Abteilungsleiter_in zu versehen. Ich werde diese neuen Bereichsverantwortlichen supervisieren und betreuen. Die Abteilungsleitenden sollen sich vorwiegend um Anliegen inhaltlicher Natur kümmern – ich selber bin ja Schulische Heilpädagogin und nicht Logopädin, Psychologin oder Psychomotorikerin.

Die Logopäd_innen, Schulpsycholog_­innen und Psychomotoriker_innen des Schuldienstes haben Anfang Jahr nicht nur eine neue Chefin erhalten – sondern mit der Universität auch eine neue Arbeitgeberin. Wie kam es dazu?

Gérard Bless: Bis zum Wechsel an die Universität waren die Mitarbeitenden des Schuldienstes bei der Erziehungsdirektion angestellt. Man kam aber zum Schluss, dass diese Mitarbeitenden eigentlich Gemeindeangestellte sind. Weil ja die Gemeinden dem Heilpädagogischen Institut das Mandat erteilen, in ihren Schulen vor Ort tätig zu sein. Und so kam es zum Vorschlag, dass die Universität als Anstellungsbehörde die Mitarbeitenden des Regionalen Schuldienstes übernehmen könnte.

Chantal Hinni: Entlöhnt werden die neuen Uni-Mitarbeitenden aber vom Kanton und den Gemeinden. Es ist wie eine Drittmittelfinanzierung. Die Uni bezahlt die Löhne und stellt sie dann dem Regionalen Schuldienst in Rechnung. Der Schuldienst stellt wiederum den Gemeinden Rechnung und erhält kantonale Subventionen.

 

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Der Wechsel zur Uni fällt auf ein Jubiläumsjahr, sozusagen ein Geburtstagsgeschenk also für den Regionalen Schuldienst.

Gérard Bless: Ein Geschenk zum 75. Jubiläum, ja. Der Regionale Schuldienst wurde im März 1947 als Psychologische Polyklinik gegründet. Gewisse mögen sich erinnern: Die Polyklinik befand sich in einem Haus, das auf dem Grundstück stand, das jetzt brachliegt neben der Grossbaustelle der Kantons- und Universitätsbibliothek. Die Kinder kamen aus dem ganzen Kanton in diese Polyklinik. Später änderte sich diese Strategie; die Fachpersonen gingen zu den Kindern, also in die Schulen. Die Polyklinik gehörte schon damals zum Heilpädagogischen Institut, das ausserdem noch die Psychologie, die Pädagogik und die Sozialarbeit umfasste. Und natürlich die Sonderpädagogik. Die Pädagogik, die Psychologie und später die Sozialarbeit haben sich dann im Rahmen der Universität selbstständig gemacht. Die Polyklinik aber ist geblieben.

Was war das Angebot an der Polyklinik?

Gérard Bless: Erst gab es «nur» Psychologie. 1950 kam bereits die Logopädie hinzu und ausserdem ein audiometrisches Zentrum für Personen mit Hörproblemen. In einem Text aus dieser Zeit fand ich die Definition: «Als Aufgabe obliegt der Polyklinik in erster Linie die praktische Hilfe am Sorgenkind. Daneben soll sie aber auch als Forschungsmittel und der Ausbildung der Studierenden mit dem polyklinischen Praktikum dienen.»

Wie kommt ein Kind zu einer Dienstleistung des Schuldienstes?

Chantal Hinni: Der Anmeldeprozess läuft über die Eltern. Im besten Falle in Zusammenarbeit mit der Lehrperson. Aber es gibt gerade im Bereich Psychologie auch Anliegen, welche die Eltern der Schule gegenüber vielleicht nicht äussern wollen. Im Normalfall wird die Schule aber informiert und mit einbezogen.

Gérard Bless: Die Grundlage dafür liefert das Konkordat Sonderpädagogik der Erziehungsdirektorenkonferenz. Damit haben die Eltern sehr viel Gewicht erhalten. Das war früher nicht so. Die Eltern hatten teilweise gar kein Mitspracherecht. Das Konkordat ist seit 2011 verbindlich für alle Kantone in der Schweiz. Und jeder Kanton musste entsprechend ein Konzept Sonderpädagogik ausarbeiten. Die Richtlinien, die diesem Konzept entspringen, sind jene, die der Regionale Schuldienst jetzt umsetzt.

Und damit den Eltern mehr Mitspracherecht einräumt.

Gérard Bless: Das soll ja auch so sein. Schliesslich sind die Eltern die Erziehungsberechtigten. Nur: Nicht alle Eltern wollen dieses Recht, diese Verantwortung.

Chantal Hinni: Oder sie wissen es gar nicht. Etwa im Falle von fremdsprachigen Eltern. Es ist eine Herausforderung gewährleisten zu können, dass Eltern nicht übergangen werden. Dass sie verstehen, warum ihr Kind Betreuung braucht und wie diese aussieht. Die Jugendlichen der Orientierungsschulen haben aber auch das Recht, drei Sitzungen mit Schulpsycholog_innen in Anspruch zu nehmen, ohne dass es den Eltern mitgeteilt wird. Das wird auch genutzt.

Wie handhaben Sie Angebot und Nachfrage? Es lässt sich ja nicht im Voraus abschätzen, wie viele Kinder logopädische oder psychologische Unterstützung brauchen.

Gérard Bless: Da gibt es natürlich Erfahrungswerte. Und es gibt vorgeschriebene Dotationen des Kantons. Für eine 100-Prozent-Stelle in Logopädie sind es 560 Kinder. Ein Schulhaus mit 560 Kindern erhält also eine ganze Logopädie-Stelle. Das ist ein sehr gutes Verhältnis.

Chantal Hinni: Die Algorithmen zur Berechnung der notwendigen Stellen an den Schulen ist sehr komplex. Bei den Logopäd_innen spielt auch der Anteil an Kindern eine Rolle, die daheim eine andere Sprache sprechen. Die Nachfrage nach Logopädie ist sehr gross. Auch bei den Psychomotoriker_innen ist das Bedürfnis gestiegen: Wir hatten bis anhin 2,7 Stellen und dürfen neu 3,7 Stellen haben.

Gérard Bless: Die Entwicklung der Gesellschaft geht leider nicht in eine Richtung, die die Motorik der Kinder fördert. Gewisse Kinder verkümmern motorisch, haben beispielsweise Mühe, rückwärtszulaufen. Die Wischbewegung auf dem Handy reicht nicht aus, um Motorik zu fördern.

 

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Chantal Hinni ist die Direktorin des Regionalen Schuldienstes des Heilpädagogischen Instituts. In ihrer Freizeit begibt sich die promovierte Heilpädagogin gerne auf Pilzsuche.

chantal.hinni@unifr.ch

Was ist ein typisches Anliegen für ein_e Psychomotoriker_in?

Gérard Bless: Schwierigkeiten mit der Schrift. Unangepasster Krafteinsatz. Probleme mit der Koordination, dem Gleichgewicht und dem Körperschema.

Chantal Hinni: Die Psychomotorik ist vielfach eine Unterstützung für eine andere Therapie. Nehmen wir die Raumorientierung: Die grosse Raumorientierung spielt eine Rolle bei der kleinen Raumorientierung, also beispielsweise im Mund. So können ein Psychomotoriker und eine Logopädin sich ergänzen.

Wo ist die Verknüpfung zwischen der Raumorientierung und dem Mund?

Chantal Hinni: Das ist ein medizinisches Phänomen. Wenn ich Raumorientierungsschwierigkeiten habe, also etwa Kinder, die vor der Türschwelle anhalten und dann einen Riesenschritt darüber machen, kann das ein Hinweis sein, dass es einen Zusammenhang gibt zum Körper im Innern. Wo ist meine Zunge in meinem Mund? Oder Körperbewusstsein insgesamt. Wo fange ich an, wo höre ich auf?

Wie haben sich die Zahlen von Angebot und Nachfrage entwickelt über die letzten Jahre?

Gérard Bless: Als ich 1988 den Schuldienst übernommen habe, betrug die Gesamtschüler_innenzahl 8900. Diese Zahl ist bis heute unverändert. Die Stellendotation des Schuldienstes aber, die hat sich in dieser Zeit verdoppelt.

Haben sich also die Probleme verdoppelt?

Gérard Bless: Ganz so linear mathematisch würde ich es nicht ausdrücken. Ich würde sagen, das Bewusstsein für Probleme ist gestiegen. Auch bei den Eltern. Man schaut besser hin. Auch die Scheu vor dem Schulpsychologen hat abgenommen.

In welchem Bereich stellen Sie die grösste Zunahme fest?

Gérard Bless: Das kommt ganz auf den Zeitpunkt im Jahr an. Während bestimmten Perioden im Jahr werden vom Kanton gewisse Massnahmen gesprochen, für sogenannt hochbegabte Kinder. In dieser Zeit gibt es dann jeweils einen Rush von Eltern, die ihr Kind abklären lassen möchten. Diese besonderen Massnahmen gab es 1988 noch nicht.

Chantal Hinni: Auch Abklärungen für Nachteils­ausgleiche sind beliebt.

Braucht ein Kind mehr Zeit an der Prüfung, braucht es auch eine Diagnose.

Chantal Hinni: Was natürlich richtig und wichtig ist. Aber manchmal wird das Pferd am Schwanz aufgezäumt. Man kommt schon zur Psychologin mit der Idee, dass das Kind mehr Zeit braucht, einen separaten Raum, mehr Licht… Aber es geht ja darum, dass das Kind mit diesem Ausgleich den «normalen» Weg gehen kann. Und dafür wiederum braucht es die Abklärung.

Gérard Bless: Nachteilsausgleiche sind auch soziologisch besetzt. Es werden viel seltener Nachteilsausgleiche vergeben für Kinder aus benachteiligten Familien.

Wird zu schnell therapiert?

Gérard Bless: Sagen wir es so: Je mehr Kinder wir therapieren, desto tiefer ist die Toleranz der Gesellschaft gegenüber Abweichungen. Nicht alle Probleme bedürfen einer Therapie. Ein kleiner Aussprachefehler etwa, ohne Leidensdruck, ist kein Problem. Interessant ist auch die geografische Verteilung. Im Einzugsbereich gewisser Ärzt_innen liegt die Zahl therapierter Kinder mit einer diagnostizierten Aufmerksamkeitsstörung mit oder ohne Hyperaktivität klar höher.

Chantal Hinni: Oder der Status einer Gemeinde. Sogar innerhalb von Gemeinden würde man Muster erkennen. In der Bewegung von Angebot und Nachfrage spielen viele Faktoren eine Rolle.

Gérard Bless: Hinzu kommt das Phänomen mit dem Etikettierungsressourcendilemma.

Etikettierungsressourcendilemma?

Gérard Bless: Wenn eine Diagnose gestellt wird, damit Ressourcen freigesetzt werden können, um einem Kind zu helfen. Stunden mit der Heilpädagogin an der Schule etwa. Es kann vorkommen, dass eine Diagnose gestellt wird, weil sonst keine Ressourcen zur Verfügung gestellt würden.

Stichwort Heilpädagog_innen. Wieso gehören diese nicht zum Regionalen Schuldienst?

Chantal Hinni: Weil die schulischen Heilpädagog_innen nicht therapeutisch tätig sind. Eine Therapie ist ausgerichtet, um ein Störungsbild, das in einem gewissen Zeitraum auftritt, zu behandeln und im besten Fall zu lösen. Die schulische Heilpädagogik ist dann zuständig, wenn ein Störungsbild bleibt, in Form einer Behinderung. Es ist eine Unterstützung, keine Therapie.

Was wünschen Sie dem Regionalen Schuldienst zum Jubiläum?

Gérard Bless: Sorge macht mir der Nachwuchs. Über die letzten Jahre hat der Schuldienst eine Feminisierung erlebt. Die meisten Stellen sind mittlerweile Teilzeitstellen. Studienabgänger_innen aber möchten ein Vollpensum oder jedenfalls nahe dran. Hinzu kommt, dass viele, die hier studieren, nach dem Abschluss in ihren Heimatkanton zurückkehren. Für den Schuldienst wünsche ich mir deshalb motivierte Mitarbeitende, die diese wertvolle Arbeit an den Schulen leisten wollen.

Chantal Hinni: Die Weiterbildung ist mir ein grosses Anliegen und ich wünsche mir, dass diese nicht zuletzt mit den künftigen Abteilungsleiter_innen neuen Schwung erhält.

 

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Gérard Bless ist Professor am Departement für Sonderpädagogik und Direktor des Heilpädagogischen Instituts. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die schulische Integration.

gerard.bless@unifr.ch