Dossier

Ist die Wahrheit allen Menschen zumutbar?

Die Aufklärer diskutierten im 18. Jahrhundert diese Frage kontrovers.

«Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar», war die Dichterin Ingeborg Bachmann (1926–1973) überzeugt. Gerade wenn «der Mensch» Schmerz erleiden musste, werde er «für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit», so Bachmann 1959. Sie sprach nicht von den Menschen, sondern von dem Menschen. Sie sprach als promovierte Philosophin von der Warte einer universalistischen Aufklärung aus, die keine Differenzierung des Menschseins kennt. «Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten», lautet der berühmte erste Satz des ersten Kapitels von Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Schrift «Vom Gesellschaftsvertrag» (1762). Dieser Satz war das Fanal einer radikalen Aufklärung, die für alle Menschen gleiches Recht einforderte; auch das Recht, die Wahrheit zu erfahren oder sich seiner Ketten zu entledigen.

Doch nur wenige Aufklärer im 18. Jahrhundert folgten dieser Idee. Die Maxime, jederzeit die Wahrheit zu erforschen und zu verbreiten, kollidierte mit der Maxime, «niemanden mit seinen Umständen unzufrieden» zu machen, wie Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) formulierte. Und unzufrieden zu sein, hatten Anlass vor allem die Ausgebeuteten oder die Opfer gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. «Zu viel Aufklärung taugt nicht für niedre Stände», meinte daher Adolph von Knigge (1752–1796); ihnen die Wahrheit zu sagen und «die Augen über ihren armseligen Zustand zu öffnen, den man nun einmal nicht verbessern kann», tauge «wahrlich nicht».

Sei es daher nicht eher «von Nutzen (…), das Volk zu täuschen?» Diese Frage liess König Friedrich II. von Preußen (1712–1786) auf Anregung Jean-Baptiste Le Rond d’Alemberts (1717–1783) seine Akademie der Wissenschaften 1779 als Preisausschreiben stellen (Einsendeschluss: 1. Januar 1780). Schon der Briefwechsel zwischen d’Alembert und Friedrich II. hatte gezeigt, dass man die Frage von einem aufklärerischen Standpunkt sowohl verneinen als auch bejahen konnte. Als absolutistischer Fürst kam Friedrich zu dem Schluss, dass bedingungslose Volksaufklärung nicht zu wünschen sei; vielmehr gelte, «dass man die Wahrheit nur mit Zurückhaltung und niemals zu ungelegenen Zeiten sagen dürfe».

3:2 für die Täuschung

Für einen Absolutisten ist diese Position nicht überraschend. Überraschend ist eher, wie viele Aufklärer in dasselbe Horn stiessen. Unter den Autoren der auf die Preisfrage der Akademie («Est-il utile au Peuple d’être trompé, soit qu’on l’induise dans de nouvelles erreurs, ou qu’on l’entretienne dans celles où il est? / Kann irgend eine Art von Täuschung dem Volke zuträglich seyn? Sie bestehe nun darinn, daß man es zu neuen Irrthümern verleitet oder die alten eingewurzelten fortdauern läßt?»), eingereichten Schriften befürwortete die Mehrheit den Nutzen des Volksbetrugs; etwa 3:2 schlugen sie die Anhänger der Volksaufklärung.

Der wichtigste Juror, das Akademie-Mitglied Nicolas Beguelin (1714 –1789), glaubte dabei die Tendenz beobachten zu können, dass die Autoren, die von abstrakten Begriffen wie «Freiheit» oder «Vollkommenheit» ausgingen und den Menschen im Auge hatten, die Frage verneinten; diejenigen aber, welche die real existierenden Menschen vor Augen hatten, die Frage bejahten, «um grössere Übel als den Irrtum abzuwenden». Die Jury der Akademie gab sich unparteiisch und teilte den Preis.

Eine Metapher und zwei Meinungen

Der erste Preisträger, Friedrich Adolph Maximilian Gustav von Castillon (1747–1814), ging davon aus, dass das Volk einen schwachen und begrenzten Verstand habe und der Führung bedürfe. Dabei sei es nicht nötig, die Gründe für Weisungen zu entwickeln. Die Wahrheit sei nur für die Führer, die «chefs» der Nation, relevant; allen übrigen können
die Gründe egal sein, schliesslich mahle eine Mühle das
Korn nicht besser, wenn man ihren Mechanismus kenne.

Der andere Preisträger, Rudolf Zacharias Becker (1752–1822), spiesste in der deutschsprachigen Ausgabe seiner ursprünglich auf Französisch eingereichten Preisschrift diese Behauptung auf: Castillon habe «nicht bedacht, dass das Volk, das auf der politischen Mühle gemahlen wird, Empfindungen von Schmerz und Vergnügen habe, dass es ihm daher nicht einerlei sein kann, wie es gemahlen werde, und dass es zugleich der Inhaber und Stifter der Mühle sei, deren Verwaltung der Regierung anvertrauet ist, und die dem Volke davon Rechenschaft geben sollte». Das war in der Tat starker Tobak, insofern die Rolle von Obrigkeit und Untertan gegenüber absolutistischen Standardannahmen verkehrt wurde, was heisst: Der Betrug des Volks sei ein Betrug am Souverän, was abzulehnen war.

 

© unicom | D. Wynistorf

Wie gesagt: Diese Position war nicht die Mehrheitsmeinung. Es gab im 18. Jahrhundert unter den Aufklärern vielmehr eine weit verbreitete Furcht vor dem Erfolg des eigenen Tuns. Moses Mendelssohn (1729–1786) zum Beispiel, der 1779 die Preisfrage der Akademie noch ungehörig fand, führte ein paar Jahre später aus: «Die Aufklärung, die den Menschen als Mensch interessiert, ist allgemein ohne Unterschiede der Stände; die Aufklärung des Menschen als Bürger betrachtet, modifiziert sich nach Stand und Beruf. [...] Menschenaufklärung kann mit Bürgeraufklärung in Streit kommen. Gewisse Wahrheiten, die dem Menschen, als Mensch, nützlich sind, können ihm als Bürger zuweilen schaden. [...] Unglückselig der Staat, der sich gestehen muß, daß in ihm die wesentliche Bestimmung des Menschen mit der wesentlichen Bestimmung des Bürgers nicht harmonieren, daß die Aufklärung, die der Menschheit unentbehrlich ist, sich nicht über alle Stände des Reichs ausbreiten könne; ohne daß die Verfassung in Gefahr sei, zu Grunde zu gehen. Hier lege die Philosophie die Hand auf den Mund! Die Notwendigkeit mag hier Gesetze vorschreiben, oder vielmehr die Fesseln schmieden, die der Menschheit anzulegen sind, um sie nieder zu beugen und beständig unterm Drucke zu halten!» Es gebe auch einen «Mißbrauch der Aufklärung», nämlich dann, wenn sie «das moralische Gefühl» schwäche.

Das geringere Übel

Auf diesen Aufsatz reagierte Mendelssohns Bewunderer August Hennings (1746–1826) irritiert: «Misbrauch der Aufklärung verstehe ich so wenig, als Dunkelheit des Lichts». Sollte denn Aufklärung auch schädlich sein können? «An und für sich freylich nicht», antwortete Mendelssohn, «aber zufälliger Weise, so wie das Sonnenlicht blöden Augen. [...] Der Aufklärer, der nicht unbedachtsam zufahren und Schaden anrichten will, hat sorgfältig auf Zeit und Umstände zu sehen und den Vorhang nur in dem Verhältnisse aufzuziehen, in welchem das Licht seinen Kranken heilsam seyn kann.»

In seinem Brief und in seinem Aufsatz verteidigte Mendelssohn um den Preis des eigenen Verstummens die Priorität der staatlichen Ordnung vor der Aufklärung der Menschen; wohl wissend, dass ein solches Argument «von jeher Schutzwehr der Heuchelei geworden» und ihm «manche Jahrhunderte von Barbarei und Aberglauben zu verdanken» sei. Doch glaubte er, dass der «tugendliebende Aufklärer [...] lieber das Vorurtheil dulden» werde, als Wahrheiten zu verbreiten, die geeignet seien, «Grundsätze der Religion und Sittlichkeit niederzureißen». Ohne Rücksicht auf Verluste aufzuklären, führe zu «Hartsinn, Egoismus, Irreligion und Anarchie». Dieses Horrorquartett erschien vielen Aufklärern schlimmer als das Entbehren von Wahrheit und Freiheit.

Religion vs Wahrheit

Insbesondere den Verlust des Glaubens hatten sie dabei im Visier. «Alle bürgerlichen Bande / Sind aufgelöst, sind zerrissen, wenn / Der Mensch nichts glauben darf», sagt der weise Nathan in Lessings bekanntem Drama. Die radikale, zur Revolution tendierende Aufklärung dagegen befand mit Jean-Paul Marat (1743–1793): «Alle Religionen reichen dem Despotismus die Hand.»

Religionskritik aber führte schnell zu Staatskritik und Revolution, das hatte der Historiker Friedrich Schiller (1759–1805) bereits in der Epoche der Reformation gesehen: «Der (…) Geist der Freiheit und der Prüfung, der doch nur in den Grenzen der Religionsfragen hätte verharren sollen, untersuchte jetzt auch die Rechte der Könige.»

 

Unser Experte Arnd Beise ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte am Departement für Germanistik. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem die Epoche der Aufklärung.

arnd.beise@unifr.ch