Dossier

Gibt es einen Schweizer Islam?

Musliminnen und Muslime werden in der Schweiz oft noch als fremd wahrgenommen. Andererseits kommt es in weiten Teilen der Community zu einer immer stärkeren Ausrichtung auf die Schweiz.

Während abgrenzende Positionen die Zugehörigkeit des Islams zur Schweiz prinzipiell bestreiten, ist dieser von dynamischen Entwicklungen geprägt. Ein Blick auf die Individuen zeigt: Im Jahr 2000 betrug der Anteil Musliminnen und Muslime mit Schweizer Pass lediglich 12,5 Prozent. Inzwischen haben knapp 36 Prozent der rund 400’000 über 15-jährigen Musliminnen und Muslime die Schweizer Staatsbürgerschaft, die die häufigste Nationalität unter den in der Schweiz lebenden Musliminnen und Muslimen ausmacht – gefolgt von den Balkanstaaten und der Türkei. Konvertitinnen und Konvertiten mit geschätzt 5000 Personen stellen nur einen kleinen Anteil der muslimischen Bevölkerung. Bei den unter 35-Jährigen sind knapp die Hälfte durch Geburt oder Einbürgerung Schweizerinnen und Schweizer. Dennoch werden Musliminnen und Muslime von Aussenstehenden häufig mit der Migrationsgeschichte ihrer Familien konfrontiert und als fremd wahrgenommen. Vor allem seit dem 11. September 2001 gilt das Muslimischsein oft als problematisch. Mit Sicherheit gibt es jedoch auch unter den noch nicht eingebürgerten Personen viele, die sich schweizerisch fühlen, da ihr Lebensweg stark oder gar ausschliesslich in der Schweiz geprägt wurde. Wie bei anderen Menschen auch ist die Identität von Musliminnen und Muslimen vielfältig und weist häufig mehrere geographische und ideelle Bezugspunkte auf. Hinzu kommt, dass viele nicht auf ihr Muslimischsein reduziert, sondern mit all ihren Facetten wahrgenommen werden wollen.

International vernetzt, lokal verankert

Veränderungen zeigen sich auch in den muslimischen Gemeinschaften. Junge Musliminnen und Muslime orientieren sich in der Art, wie sie eine religiös motivierte Jugendarbeit betreiben wollen, an den Standards von Jugendorganisationen in der Schweiz. Musliminnen und Muslime entwickeln in ihren Gemeinden, in Spitälern und Gefängnissen neue Formen religiöser Begleitung, die es in ihren Herkunftsländern oft nicht gibt und die sie unter Aufnahme der in der Schweiz gängigen Begrifflichkeit als muslimische Seelsorge bezeichnen. Dabei stehen nicht religiöse Lehren im Vordergrund, sondern Individuen in ihren menschlichen Notsituationen, mit ihren Fragen und Zweifeln und mit ihren spirituellen Bedürfnissen. Auch in ihren Freitagspredigten nehmen Imame oft auf Alltagssituationen aus der Schweiz Bezug und bringen diese mit religiösen Überlieferungen ins Gespräch. Schliesslich organisieren sich die muslimischen Gemeinden auf lokaler, kantonaler und nationaler Ebene und orientieren sich dabei an den föderalistischen politischen Strukturen und an der demokratischen Diskussionskultur der Schweiz. Es entsteht so eine vielfältige Vereinslandschaft, die von bürgerschaftlichem Engagement getragen ist. Wie auf der Ebene der individuellen Identitäten müssen hier vermeintliche Gegensätze keine Widersprüche bedeuten: Muslimische Gruppen können gleichzeitig international vernetzt und lokal verankert sein. Auch wenn bisher in der Schweiz noch keine muslimischen Religionsgemeinschaften öffentlich-rechtlich anerkannt sind, wird deren soziales Engagement zunehmend als Ressource wahrgenommen und teilweise vom Bund oder von einzelnen Kantonen unterstützt.

 

 

© STEMUTZ.COM
Islamisch gelebte Solidarität

Diese verschiedenen Entwicklungen haben auch Auswirkungen auf «den Islam», welcher hier die dritte Ebene ausmacht. Was Islam genau ist, steht nicht von vornhinein fest, sondern ergibt sich jeweils neu durch dynamische Prozesse, Wechselwirkungen und Diskurse. Es sind die Musliminnen und Muslime und ihre Gemeinschaften, die den Islam vor Ort gestalten. Muslimischsein ist durch den Bezug auf den Koran und die Überlieferung des
Propheten Muhammad sowie durch religiöse Praktiken wie Beten, Fasten und wohltätiges Handeln geprägt. All dies kann aber auf unterschiedliche Weise verstanden, gedeutet und gelebt werden. So finden etwa Diskussionen darüber statt, wie die verpflichtende Armenabgabe (zakãt) in der Schweiz sinnvoll geleistet werden kann und wem sie zugutekommen soll. Während es vor einigen Jahren noch selbstverständlich war, Geld in die Herkunftsländer zu schicken, gibt es inzwischen auch Projekte, um armutsbetroffenen Menschen im Inland zu helfen. Manche Musliminnen und Muslime gehen so weit, dass sie diese religiöse Pflicht durch Spenden an nichtmuslimische Hilfsorganisationen leisten wollen. Damit stellen sie menschliche Solidarität über formale Religionszugehörigkeit.

Vielseitiger Schweizer Islam

Eine junge Entwicklung ist, dass auch in der Schweiz aus einer islamischtheologischen Perspektive über solche Fragen nachgedacht wird. Dabei geht es um Themen wie Anthropologie, Koranauslegung, Seelsorge, Soziale Arbeit und religiöse Bildung, die aus muslimisch-akademischer Sicht reflektiert werden. Gerade für junge Schweizer Musliminnen und Muslime sind Antworten religiöser Autoritäten aus dem Ausland oft unbefriedigend. Auch aus wissenschaftlicher Sicht ist es zentral, in dem Kontext, in dem bestimmte Erfahrungen gemacht werden, auch über diese nachzudenken. Dabei dient die theologische Selbstreflexion einerseits der intellektuellen Verantwortung in einer stark säkular geprägten Gesellschaft und andererseits der Weiterentwicklung von Handlungsfeldern der Gemeinden.
Angesichts dieser verschiedenen Trends ist es sicherlich angemessen, von einem «Schweizer Islam» zu sprechen. Wie in anderen Identitätsdiskussionen auch lässt sich das spezifisch Schweizerische nur schwer bestimmen. Der Schweizer Islam ist vielfältig und lässt sich nicht auf eine einzige Position festlegen. Er lässt sich nicht von oben verordnen, weder vom Staat noch von einzelnen muslimischen Stimmen. Oft entsteht er von unten und lässt sich kaum festschreiben. Die Diversität der Schweiz findet auch im Schweizer Islam ihren Wiederhall. Aufgrund der grossen Bedeutung kantonaler Bezüge ist es manchmal mehr ein Basler, Zürcher oder Waadtländer Islam.

Integration als Win-win

Es gibt aber noch einen ganz anderen Islam, auch in der Schweiz, mit fundamentalistischen oder radikalisierten Musliminnen und Muslimen – obwohl diese eine kleine Minderheit ausmachen. Wenn sich junge Menschen der zweiten oder dritten Generation hiervon angesprochen fühlen, kann dies mit einer kulturellen Entwurzelung zusammenhängen. Nachdem die Sythese von Herkunftskultur und Islam zerbrochen ist, bleibt bisweilen ein Vakuum ohne Sinn zurück. Wenn noch Ausgrenzungserfahrungen hinzukommen, ist es nur ein kleiner Schritt, bis man sich als Opfer einer als «verdorben» gedeuteten Gesellschaft wahrzunehmen beginnt. Gerade vor diesem Hintergrund gewinnt die kulturelle Beheimatung des Islams in der Schweiz eine wichtige Bedeutung. Während gewisse Prediger sich gerade die Wunde einer fehlenden Zugehörigkeit zunutze machen, um junge Menschen als Ausgeschlossene anzusprechen, kann eine breit akzeptierte mehrfache Zugehörigkeit zur Schweiz wie zum Islam das wirksamste Gegengewicht bilden.
Die Diskussion über die Vereinbarkeit von Islam und Schweiz muss schliesslich noch auf einer anderen Ebene kritisch reflektiert werden: Sie kann als Spiegel einer gesellschaftlichen Befindlichkeit gelesen werden, die sich zwischen Angst und Orientierungslosigkeit bewegt. Anhand eines vermeintlichen nach aussen verlagerten Anderen soll das Eigene wieder stärker betont werden. Wird die Zugehörigkeit des Islams zur Schweiz eines Tages eine Selbstverständlichkeit sein? Wenn einmal die Frage nach einem Schweizer Islam nicht mehr gestellt wird, könnte dies ein Zeichen für Normalität und gelungene Integration sein. Aber auch dann wäre die kontroverse Debatte über Islam nicht zu Ende, sie würde aber nicht als Sonderfall betrachtet, sondern so geführt, wie religionskritische Debatten zu anderen Religionen auch.

 

Unsere Experte Hansjörg Schmid ist Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) an der Universität Freiburg, welches ein Doktoratsprogramm zu islamisch-theologischen Studien im Schweizer Kontext durchführt. Als Professor für Interreligiöse Ethik forscht er zu politischem Denken im zeitgenössischen Islam, zu Musliminnen und Muslimen in Europa sowie zu Aktivitäten muslimischer Gemeinschaften in der Schweiz im sozialen Bereich.
hansjörg.schmid@unifr.ch


Zur Vertiefung:

Zweisprachige Website des SZIG zum Islam in der Schweiz: www.islamandsociety.ch
Zweisprachige Publikationsreihe SZIG-Papers: https://www.unifr.ch/szig/de/forschung/publikationen/szig-papers.html