Dossier

Ludo ergo sum?

Computerspiele spalten sowohl die virtuelle wie auch die reale Welt in zwei Lager. Sehen die einen darin eine wahre Brutstätte für Gewalttäter, sprechen die anderen dem Frönen von Videogames gar positive Nebeneffekte zu.

Computerspiele erzählen Geschichten. Oder sollte man sagen: Computerspiele erlauben es, Geschichten selbst zu erleben? Macht es einen Unterschied, ob ich auf der Kinoleinwand sehe, wie Rambo im vietnamesischen Dschungel aufräumt oder ob ich selber in die Rolle des Killers schlüpfe, der wahlweise degenerierte Zombies, furchterregende Alienwesen oder eiskalte Nazis ausschaltet – beziehungsweise niedermetzelt, je nach Drastik des Spiels. Die Gaming-Gemeinde nennt das Kind ungeniert beim Namen: Ego-Shooter. So heisst eines der erfolgreichsten Genres, in dem man durch verwinkelte Szenerien pirscht und am besten einfach mal draufhält, sobald sich etwas bewegt. Stallone schiesst versus ich schiesse. Es ist so etwas wie die descartsche Steigerungsform des Seins: Ludo ergo sum. Aber: Macht mich das auch zum Gewalttäter?

Das Kriegerische zieht sich weiter in den gesellschaftlichen Diskurs; da ist so etwas wie ein Cultural War im Gange, seit Jahrzehnten schon und immer wieder gibt es neue Scharmützel. So etwa Trump, nach dem Parkland-Schulmassaker 2018: «I’m hearing more and more people saying the level of violence in video games is really shaping young people’s thoughts.» Die Twittersphäre prompt: Wie oft denn noch – es gibt keine empirischen Belege für den Zusammenhang! In Kanada wird genausoviel ego-geshootet wie in den USA! Und überhaupt, das Blame-Game hatten wir doch schon einige Male: Wer erinnert sich noch an die Brutalo-Film-Debatte?

Maurizio Rigamonti argumentiert ähnlich, er hat in den letzten Jahren eine Lehreinheit Videogames für Informatik--Studierende an der Uni Freiburg aufgebaut: «A priori bin ich für eine maximale Öffnung auf regulatorischer Ebene.» Anything goes in games? Nein, das soll nicht die Botschaft an die Studierenden sein, es sei zentraler Teil des Unterrichts, zukünftigen Videospiel-Entwicklern ihre Verantwortung klarzumachen. Sein Lieblingsbeispiel: «Spec Ops: The Line», ein Kriegsspiel, inspiriert von Joseph Conrads Roman «Herz der Finsternis». Rigamonti schildert die Spielerfigur, einen zerrissenen Helden, der mitunter allzu grausame Waffen einsetzt, ohne recht zu wissen weshalb und gegen wen, einfach weil die Spieldynamik dazu verleitet. Es gibt verschiedene Ausgänge der Handlung, einer düsterer als der andere – es kann auch passieren, dass der Held zum Ende Selbstmord begeht. Das erinnert ein wenig an eine Forderung des Roten Kreuzes vor einigen Jahren nach mehr Realismus in Kriegsspielen. Das IKRK hätte es gern gesehen, wenn Spieler dafür belohnt würden, wenn sie Kriegsrecht respektieren (zum Beispiel Verwundete schonen) – und wenn sie im Spiel Konsequenzen zu spüren bekommen, falls sie Kriegsverbrechen begehen. Ins selbe Horn blies anlässlich einer grossen Gaming-Konferenz 2016 der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen: «Während Gewalterfahrungen in der Familie und im Umfeld als relevant für die Erklärung gewalttätigen Verhaltens gesehen werden, wird der Einfluss von Gewaltdarstellungen in den Medien auf die Aggressionsbereitschaft im realen Leben jährlich zur GamesCom geleugnet.»

Ist die Sorge begründet? Die Faktenlage ist dünn. Es gibt zwar eine ganze Reihe von Studien, die untersucht haben, ob das Spielen von besonders brutalen Games zu mehr Aggressivität führt oder die gar Zusammenhänge mit Amoktaten zu belegen versuchen. Doch, wie sich die Expertin Cheryl K. Olson, Autorin einer der grössten Übersichtsstudien, gegenüber dem Magazin «Der Spiegel» geäussert hat: «Mit Verlaub, aber die meisten Studien zum Thema sind Müll. Sie werden von Psychologen durchgeführt, die keine Ahnung von Videospielen haben.» Nach Stand der Dinge plädiert Olson vor allem dafür, Alarmismus in der Diskussion beiseite zu lassen. Rigamonti kritisiert ebenfalls die verbreiteten Schwarzweiss-Schemen in der Diskussion und hält es für verfehlt von der Wissenschaft eine simple Antwort zu erwarten. Derweil ortete ein Meinungsstück unlängst in der «New York Times» das Problem ohnehin eher in der vergifteten Gesprächskultur in vielen Multiplayergame-Chats – «Fortnite» lässt grüssen –, wo Rassismus und Sexismus grassierten und der Umgangston allgemein nicht eben ein sanfter ist. Am Ende bleibt es also ein Glaubenskrieg – wobei man natürlich immer noch mit dem Vorsorgeprinzip argumentieren könnte: Jeder Amoktäter, der unter anderem durch seinen Gamekonsum «über die Klippe» gestossen worden ist, wäre einer zu viel. Rigamonti gibt allerdings zu bedenken, dass auch sehr explizite Spiele eine reflexive Ebene haben können: «Wenn man Gewalt verbietet, verbietet man auch die Diskussion darüber.» Spricht hier womöglich nicht nur der Akademiker, sondern auch der Branchen-Vertreter? Rigamonti amtet auch als Präsident des Swiss Game Centers, das sich der Promotion der Gameentwicklung in der Schweiz verschrieben hat. Aus Hollywood würde das ja nicht so anders klingen.

Pak Trade, S.M. Hussain, Pakfield Sports, Sialkot, Pakistan, ca. 1957

Ein Blick auf das Spielbrett genügt, um zu erkennen, dass wir es hier mit einer «Monopoly»-Variante zu tun haben. Die Version «The Bank Game of New Pak Trade» stammt aus Pakistan und wurde von Pakfield Sports in Sialkot um 1957 herausgebracht. Die Modifikationen an Inhalt und Design sollten ermöglichen, das Copyright für «Monopoly» des englischen Spieleverlags Waddingtons zu umgehen. Kurz nachdem Parker Brothers das Spiel 1935 in den USA veröffentlicht hatte, erwarb Waddingtons die Rechte für Europa und Grossbritannien. Auf dem indischen Subkontinent war man also eher mit der britischen, als mit der amerikanischen Version von Monopoly vertraut. Das Spiel ist zweisprachig Englisch und Urdu und propagiert ein wirtschaftlich erfolgreiches, modernes, muslimisches 
Pakistan. In der Mitte des Spielbretts sieht man moderne Geschäftsgebäude neben einer Moschee. Und auch in einer Ecke des Spielbretts erinnert ein Feld daran, in die «Heilige Moschee» zu gehen. Im Spiel helfen modernste Verkehrsmittel dabei, Häuser, Hotels, Theater, Märkte und Mühlen zu errichten und profitabel zu vermieten. Der Autor S.M. Hussain wollte die Spieler zu wirtschaftlichem Denken erziehen, wie er in der Spielregel schreibt.

Die Exzesse indessen sind allerdings irritierend: Das japanische Game «RapeLay» lässt einen Rachefeldzug nacherleben, der im Wesentlichen in der mit viel Brutalität garnierten Vergewaltigung dreier Frauen besteht. Hätte sich das Genre durchgesetzt, müsste man es Ego-Raper nennen. Haben solche Beispiele offensichtlich «schlechten Geschmacks» (Rigamonti) die Gaming-Szene womöglich aufgerüttelt? Lässt sie ihre Brutalo-Phase gerade hinter sich? Anzeichen dafür gibt es: Die Gameentwickler-Legende Hideo Kojima, auch ein Spezialist für explizite Gewaltszenen, hat unlängst die Szene mit dem rätselhaften, weitgehend actionlosen Spiel «Death Stranding» überrascht, in dem es in einem postapokalyptischen Amerika weniger um Überlebenskampf als vielmehr um Kollaboration geht.

Das ist allerdings nicht die ganze Geschichte. Es gibt nicht nur Games voller Gewalt, voller gesellschaftlicher Dystopien, man kann mit Computerspielen auch eine Vielfalt an positiven Erlebnissen triggern. Für Rigamonti ist der wichtigste Effekt das Schüren von Kreativität und Neugierde. Aber womöglich können Games noch viel mehr. Rigamonti hat an der Uni Freiburg überraschende Kontakte geknüpft, inzwischen arbeitet er eng mit Lucas Spierer zusammen, der das Labor für Neurorehabilitation leitet. Spierer erforscht schon seit gut zehn Jahren das Potential von «Gamified Interventions». Dieses sieht er vor allem bei kognitiven therapeutischen Ansätzen, wo sich Motivation, Immersion und damit das geduldige Befolgen der Behandlung verbessern lassen. «Eine medizinische Intervention zu gamifizieren ist analog zur Beimischung von Zucker zum Hustensirup, der sonst allzu bitter schmecken würde», sagt Spierer.

Rigamonti erwähnt das Beispiel der Rehabilitation nach einem Hirnschlag, wo es von grosser Bedeutung sei, dass Betroffene ihre Übungen intensiv und ausdauernd machen, obwohl diese an sich ja «wenig lustig» seien. Spierer ist überzeugt, dass man genau da sehr viel von der Gamewelt lernen könnte, denn darum gehe es ja in einem erfolgreichen Game: Menschen möglichst lang und möglichst tief in die Spielwelt hineinzuziehen. Auch Spierer stört sich dementsprechend daran, dass die mediale Diskussion immer wieder auf die Gewaltthematik zurückfällt, statt über diese Potentiale und Anwendungen zu diskutieren.

Noch sind die in Freiburg entwickelten Games relativ einfache Experimente, nicht zu vergleichen mit dem Grafik- und Erzählbombast der grossen Gameentwickler, die die Filmstudios in Sachen Umsatz übrigens längst überholt haben. Doch Rigamonti ist zuversichtlich, «dass sich diese zu etwas Grösserem entwickeln.» Nun sei es an der Zeit, die Effekte rigoros zu testen: «Die Analyse muss auf einer wissenschaftlichen Grundlage geschehen.» Vielleicht gelingt der Nachweis eines eindeutig positiven Effekts von Games ja tatsächlich leichter als der eines immer wieder kolportierten persönlichkeits- oder gar kulturzersetzenden Schädlings. 

 

Unser Experte Maurizio Rigamonti unterrichtet an der Universität Freiburg Design and Graphics Programming for Game Development. Zudem ist er Präsident des Swiss Game Centers und Mitgründer von sugarcube Information Technology. An der EPAC (Ecole Professionnelle des Arts Contemporains) im Wallis ist er Koordinator des Game Development Masters.

maurizio.rigamonti@unifr.ch

Unser Experte Lucas Spierer ist Neurowissenschaftler und leitet eine Gruppe an der Universität Freiburg, die sich sich unter anderem auf Rehabilitation Software Development spezialisiert hat.

https://www3.unifr.ch/med/spierer/en/

lucas.spierer@unifr.ch