Pioniergeist: Der erste Ästhetik-Lehrstuhl der Schweiz

Pioniergeist: Der erste Ästhetik-Lehrstuhl der Schweiz

Seit der Einrichtung des ersten Universitäts-Lehrstuhls für Ästhetik und Kunstphilosophie im Jahr 2019 hat dieser eine bedeutende Rolle in der schweizerischen akademischen Welt übernommen. Im Interview mit Prof. Dr. Emmanuel Alloa werfen wir einen Blick auf die facettenreiche Welt der Ästhetik, von ihrer historischen Entwicklung bis hin zu ihrer aktuellen Relevanz für Gesellschaft und Kultur.

Der Lehrstuhl für Ästhetik und Kunstphilosophie an der Unifr ist einzigartig in der Schweiz. Könnten Sie uns diesen kurz vorstellen?
Sehr gern. Die Universität Freiburg hat 2019 am Departement für Philosophie einen neuen Lehrstuhl für Ästhetik und Kunstphilosophie eingerichtet, für den ich damals den Ruf an die Unifr erhielt und dessen Verantwortung ich seitdem trage. Unser Team am Lehrstuhl ist auf verschiedenen Gebieten der Ästhetik in Geschichte und Gegenwart tätig, sowohl in der Forschung als auch in der Lehre. Wir sind bemüht, allgemeine Kategorien wie etwa Schönheit, Geschmacksurteil oder den Werkbegriff in engem Austausch mit den stets singulären ästhetischen Gegenständen und den jeweiligen Künsten (Malerei, Literatur, Musik, Theater, Film, Architektur, Tanz …) zu bestimmen. Das legt dann oft einen interdisziplinären Austausch mit den anderen an der Unifr vertretenen Kunstwissenschaften nahe, mit denen wir sehr regelmässig zusammenarbeiten.

Anderseits verstehe ich Ästhetik jedoch auch als eine philosophische Kerndisziplin, insofern sich die Ästhetik – man vergisst es manchmal – noch vor jeder Beschäftigung mit dem Schönen oder mit Kunstwerken zunächst einmal mit der Logik sinnlicher Erkenntnis befasst (Ästhetik leitet sich von Aisthesis, dem griechischen Wort für Wahrnehmung her). Dass uns die Sinne, anders als uns eine hartnäckige sinnenfeindliche Philosophietradition weismachen wollte, nicht immer täuschen, sondern auf ganz eigene – nämlich gerade nicht-begriffliche – Weise die Welt verlässlich erschliessen: das ist ein Nachweis, mit dem sich die Ästhetik im Kern der philosophischen Debatten über Erkenntnisformen verortet.

Wie sehen Sie die Bedeutung dieses Lehrstuhls für die akademische Gemeinschaft in der Schweiz und darüber hinaus?
Es war tatsächlich ein Kuriosum, dass es in dem Land, das zu recht auf Rousseau, Nietzsche, Giacometti oder Tinguely stolz ist, bis dato landesweit keinen einzigen Universitäts-Lehrstuhl für philosophische Ästhetik gab. Dabei spielte die Schweiz sogar eine ganz zentrale Rolle in der Etablierung der Ästhetik als neuer philosophischen Disziplin im 18. Jahrhundert, als Autoren wie J.J. Bodmer, J.G. Sulzer oder J.J. Breitinger die Rolle des Gefühls rehabilitiert haben. Ganz zu schweigen von ihren Beiträgen zu einer Ästhetik des Erhabenen (vielleicht laden spektakuläre Bergkulissen eher zu Erhabenheits-Erfahrungen ein). Es ist also nur folgerichtig, dass Ästhetik nicht nur an Kunsthochschulen gelehrt und erforscht wird – ich denke etwa an meine Kollegin, Prof. Judith Siegmund an der Zürcher Hochschule der Künste – , sondern sich auch die Universitäten auf diese lange Tradition besinnen und die Unifr eine Vorreiterrolle übernimmt. Denn die Schweiz hat sich nicht nur auf dem Gebiet der praktischen Ästhetik einen Namen gemacht – man braucht nur an Design und Typographie zu denken –, sondern hat auch auf dem Gebiet der theoretischen Ästhetik Wichtiges geleistet.

Allerdings will dieser Ästhetik-Lehrstuhl, den wir nun dankenswert in Freiburg haben, nicht nur in den Rückspiegel, sondern auch dezidiert nach vorn schauen. Wir möchten unseren eigenen Beitrag zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen leisten.

Genau, denn: Philosophie, Ästhetik … klingt alles sehr spannend. Aber was kann man damit machen? Kann man damit einen Job finden?
Ästhetische Fragen betreffen nicht nur Kunstkritikerinnen, Opernfreunde oder Gourmets, sie betreffen uns alle. Ob Unternehmenskommunikation, Urban Design, Event-Kultur oder Selbstinszenierung in sozialen Medien – wohin man schaut sind Ästhetisierungsprozesse im Gange. Die allgemeine «Aufhübschung» ist schon lange nicht mehr nur Verpackung, sondern Kern der Botschaft. Da ist dann kritische Distanz gefragt, und ein reflektierter Umgang. In der Ästhetik kann man das «Was» niemals vom «Wie», den Inhalt niemals von der Art und Weise trennen; was wir an ästhetischen Gegenständen lernen, lässt sich auf viele andere Felder übertragen. In dieser Hinsicht hat die philosophische Ästhetik ein feingliedriges Handwerkszeug anzubieten, damit wir anstelle von passiven Rezipienten zu kritischen Zeitgenoss_innen werden, die diese neuen audiovisuellen und multisensoriell organisierten Erfahrungswelten verstehen und eigenmächtig mitgestalten können.

In dieser Hinsicht betrifft die Befähigung zur ästhetischen Kritik alle Bürger_innen. Neben diesem allgemeinen Auftrag haben wir an der Unifr jedoch auch ein gezielteres Ausbildungsangebot. Wir bereiten Studierende für ein Berufsleben im Kultursektor, im Erziehungsbereich sowie an der Schnittstelle von Kunst und Öffentlichkeit aus. Analytische Kompetenzen, wie sie im Philosophie-Studium verfeinert werden, gepaart mit ästhetischer Bildung – das ist heute sehr gefragt. Eine ganze Reihe unserer Absolvent_innen arbeiten heute in im Kulturjournalismus (Radio, Print und Online-Medien), in Museen oder in der Kunstförderung.

Könnten Sie uns über das Forschungsprojekt «Aerial Spatial Revolution» erzählen, das durch den SNF-Sinergia-Grant unterstützt wird?
Gern. Wir nehmen nun im April neu die Arbeit an einem neuen kollaborativen Verbundprojekt auf, das wir in Freiburg gemeinsam mit der Tessiner SUPSI, der Architekturfakultät Mendrisio und der OST St. Gallen durchführen. Wir freuen uns sehr, mit dem Projekt «Aerial Spatial Revolution» einen der begehrten SINERGIA-Grants des SNF gewonnen zu haben. Es geht dabei um die Frage, wie die Revolution der Luft- und Raumfahrt seit Beginn des 20. Jahrhunderts unser Verständnis von Räumlichkeit radikal verändert hat. Der «Blick von oben» zieht eine «Verflachung» der Welt nach sich, aber auch eine Objektivierung und Selbstdistanzierung. Das Projekt bietet erstmals eine systematische und interdisziplinäre Studie der Geschichte und der Auswirkungen der Raumrevolution. Unser Forschungsnetzwerk bringt Expert_innen aus den Bereichen Städtebau und Architektur, Ästhetik, Theorie visueller Medien und politische Philosophie zusammen, und verschränkt praktische wie theoretische Gesichtspunkte. Das Freiburger Teilprojekt «AeroVision» soll eine Phänomenologie des luftbasierten Blicks liefern, auf der Grundlage meiner eigenen medienphänomenologischen Arbeiten und meiner Überlegungen zur Philosophie der Perspektivität, wobei wir uns auch fragen wie Technologie wie unbemannte Drohnen und Remote-Sensing-Technologien unsere natürlichen Wahrnehmungs-Koordinaten verändern.

Der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, der im September in Freiburg stattfinden wird, ist ein bedeutendes Ereignis für die Ästhetik-Community. Was hat es damit auf sich?
Die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik (DGÄ) ist der allgemeine Dachverband im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Schweiz, Österreich), aber auch darüber hinaus. Mit über 700 Mitgliedern ist sie die heute europaweit grösste wissenschaftliche Gesellschaft für Ästhetik, und zählt eine ganze Reihe von Mitgliedern aus anderen Sprachregionen. Die Mitgliederversammlung der DGÄ hat mich 2021 zu ihrem Präsidenten gewählt, und zu meinen Aufgaben gehört damit ebenfalls die Durchführung des dreijährig stattfindenden grossen Kongresses. Ich freue mich sehr, dass ein DGÄ-Kongress nun erstmals nach Freiburg kommt (in der Stadt, in der übrigens 2008 die European Society of Aesthetics gegründet wurde!). Vom 9. bis 13. September 2024 wird es zu dem allgemeinen Thema «Medien der Künste/Künste der Medien» über 100 wissenschaftliche Parallelvorträge geben, mit Vortragenden aus Europa und den USA. Begleitend dazu gibt es ein Rahmenprogramm mit Performances und Lesungen, das auch speziell dem allgemeinen Publikum offenstehen soll. Das Organisationsteam ist momentan aktiv damit beschäftigt, weitere Kooperationen mit lokalen und kantonalen Partnern zu vereinbaren. Eine Tagungsgebühr gibt es keine: Alle sind herzlich eingeladen – Universitätsmitglieder, Studierende, die interessierte Öffentlichkeit –, im September mit uns gemeinsam über Kunst, Ästhetik, Medien und Gesellschaft zu debattieren.

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Author

Lovis Noah Cassaris ist Germanist_in, Philosoph_in und Autor_in, seit 2018 zudem Redaktor_in und Social-Media-Expert_in im Team Unicom. Lovis bezeichnet sich selbst als Textarchitekt_in und verfasst in der Freizeit Romane und Kurzgeschichten.

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