Das traditionelle Freiburger Colloquium des Mediävistischen Instituts wird dieses Jahr (8.–10.9.) erstmals von mehreren Personen organisiert, nämlich von allen mediävistischen Literaturwissenschaftler_innen der Uni Freiburg gemeinsam und noch dazu in Zusammenarbeit mit dem Institut für Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft. Die Direktorin des Mediävistischen Instituts, Prof. Cornelia Herberichs, erklärt, wie es dazu kam.
Für die Organisation des diesjährigen Colloquiums brauchte es besonders viele mitdenkende Köpfe aus verschiedenen Disziplinen, denn wir haben uns mit dem Colloquium eine grosse Herausforderung gestellt: Unser Thema ist sozusagen die «Weltliteratur» im Mittelalter.
Konnte es im Mittelalter überhaupt so etwas wie eine «Weltliteratur» geben?
Natürlich ist der Begriff «Weltliteratur», wie Goethe ihn vor allem geprägt hat, nicht eins zu eins auf das Mittelalter übertragbar. Die bekannte «Welt» war damals ja schon geographisch viel kleiner als heute. Aber für das europäische Hochmittelalter kann man – mit Einschränkungen – durchaus eine ähnliche Universalität beobachten: Literarische Stoffe waren u.a. in lateinischer, französischer, deutscher und englischer Sprache gleichermassen verbreitet. Die Geschichten um Alexander den Grossen, König Artus, Reinhart Fuchs, die Reiseabenteuer Marco Polos und die Schlachten vor Trojas Stadtmauern lasen Menschen – oder bekamen sie vorgelesen – quer über den ganzen Kontinent.
Das hört sich fast nach Mainstream-Kultur an, vergleichbar mit dem heutigen Unterhaltungsmarkt, auf dem in allen Ecken der Welt dieselben Produkte, Musik, Filme oder auch Kunstwerke rezipiert werden?
Was die damalige Situation von der heutigen, durch Massenmedien globalisierten Unterhaltungskultur unter anderem unterscheidet, ist, dass diese Romane nicht wirklich in andere Sprachen «übersetzt», sondern für den jeweiligen Kulturkreis jeweils eigens nacherzählt und angepasst wurden. Das Phänomen, literarische Werke in Fremdsprachen möglichst exakt und werkgetreu zu übersetzen, ist recht modern und stammt erst aus dem Humanismus des 16. Jahrhunderts. Das markiert einen bedeutsamen kulturellen Unterschied mittelalterlicher transnationaler Kultur zur heutigen.
Warum ist der Unterschied so bedeutsam?
Trotz zahlreicher Übereinstimmungen, was die groben Inhalte der Texte betrifft, wurden die «Blockbuster»-Geschichten in vielen Details doch jeweils unterschiedlich dargeboten, angepasst an das jeweilige kulturelle Milieu und auch geprägt vom literarischen Stil des jeweiligen Übersetzers bzw. Bearbeiters. Das ist vielleicht eher vergleichbar mit dem Phänomen, dass heute gewisse erfolgreiche Filme aus Asien oder Europa in den USA an anderen Schauplätzen und mit eigenen Schauspielern neu gedreht werden, um für die Zuschauer_innen des dortigen Kulturkreises zugänglicher zu sein. Dabei verändern sich in der Darbietung zahlreiche Einzelheiten: Historische Anspielungen im Plot, Geschlechterrollen, ästhetische Normen etc. werden für das Zielpublikum angepasst. Das gilt auch für die international erfolgreichen literarischen Stoffe des Mittelalters. Aus dieser Perspektive ist Komparatistik immer auch ein Politikum.
Inwiefern ein Politikum?
Von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert an wollten Komparatisten explizit ein Gegengewicht setzen zu einer Betrachtung von Literatur und Kunst aus rein monoglotter, nationalstaatlicher Perspektive. Dadurch dass sie aufzeigten, dass unterschiedliche Sprachräume und Kulturen über diverse Künste miteinander vernetzt und verflochten sind, sollte Literatur vor dem Missbrauch durch nationalistische Ideologien geschützt werden: Die erste komparatistische Zeitschrift, «Acta Comparationis Litteratura Universalis», wurde 1877 vom ungarischen Germanisten Hugo Meltzl herausgegeben. Die Zeitschrift verstand sich programmatisch als ein «Vereinigungsorgan» von Dichtern und Philosophen «aller Nationen». Nach dem zweiten Weltkrieg, im Jahr 1948, erschien aus der Feder des Romanisten Ernst Robert Curtius eine ausserordentlich einflussreiche Studie mit dem Titel «Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter». Der Universalgelehrte wollte mit diesem umfangreichen Werk seinen Zeitgenossen ins Gedächtnis rufen, dass alle europäischen Kulturen eine gemeinsame christlich-abendländische Tradition besitzen; sein Ziel war es, den Chauvinismen und Nationalismen in der Kunst- und Literaturforschung seiner Zeit eine Absage zu erteilen. Die Mediävistik spielte in diesen historischen Phasen der Komparatistik des 19. und 20. Jahrhunderts eine eminente, politische Rolle.
Ist das auch heute noch so?
Die «Neu-Komparatistik», welche sich mit modernen Kulturen und Literaturen beschäftigt, ist auch heute oftmals politisch geprägt: So setzt sie sich intensiv auseinander mit der Kritik am Eurozentrismus der frühen Komparatistik, mit den Orientalismus- und Postkolonialismus-Debatten, mit der Rolle des Englischen für die Literatur kleiner Sprachgruppen. Das sind spannende und wichtige Themen, und auch die Mediävistik setzt sich in jüngerer Zeit zunehmend mit Verflechtungen zwischen europäischen und aussereuropäischen, beispielsweise Kulturkreisen des Orients auseinander. Aber dennoch haben sich die «moderne» und die «mediävistische Komparatistik» inzwischen voneinander entfernt. Für die Mediävistik ist ihre Aufgabe als eine auch komparatistisch arbeitende Disziplin deshalb gewissermassen neu zu definieren: Können wir Begriffe wie «Dekolonialisierung» oder «Globalisierung» wirklich auf das Mittelalter anwenden, wie dies in den letzten Jahren zum Teil versucht wurde? Welche Begriffe und Instrumente der modernen Komparatistik können auch für uns fruchtbar sein und von welchen sollte man die Hände lassen, um nicht durch Rückprojektionen eine historische Linearität zu konstruieren, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird? Durch die zeitliche Distanz können Mediävist_innen bestimmte Methoden, die in der modernen Komparatistik eine wichtige Rolle spielen, auch präzisieren.
Welche sind dies?
Zum Beispiel das Arbeiten mit Epocheneinteilungen. Schon der Begriff «Mittelalter» verdankt sich Vergleichsoperationen: Zeitliche Periodisierungen von Geschichte entstehen durch den Vergleich historischer Paradigmen mit einem Vorher und Nachher, sei es medialer Revolutionen wie dem Buchdruck, seien es sozialer oder religiöser Umwälzungen. Diese zeitliche Dimension von Epochenbegriffen hat aber auch eine räumliche Dimension: Aktuell wird im Anschluss an die Thesen des Arabisten Thomas Bauer in der Mediävistik diskutiert, ob es ein «islamisches Mittelalter» überhaupt gegeben habe? Wie gehen wir mit gleichzeitigen Phänomenen um, die in weit auseinanderliegenden Kulturen vorliegen, für die aber keine Austauschbeziehungen nachzuweisen sind? Der Historiker Michael Borgolte wird im Rahmen unserer Tagung einen Abendvortrag halten zu dem Phänomen, dass Stiftungen – also Rechtsformen, die über das Leben des Stifters hinaus einen gewissen gesellschaftlichen Einfluss ausüben – in Gesellschaften unterschiedlichster Religionen und Sozialstrukturen entstehen. Welche Schlüsse ziehen wir aus solchen universalen, jedoch voneinander unabhängigen Entwicklungen für eine «globale Geschichtsschreibung»? Oder auch die Sprachenpolitik: Aktuell wird das Englische als Katalysator einer «Weltliteratur» als eine kolonialistische Sprache kritisiert. Aamir R. Mufti hat jüngst in seinem Buch «Forget English!» ein flammendes Plädoyer formuliert gegen die Globalisierung des Englischen und für die Polyglossie der Kunst. In den Jahrhunderten nach der Karolingischen Bildungsreform des 8. Jahrhunderts war das Lateinische eine ähnliche «Weltsprache» wie heute das Englische. Wie drücken sich dennoch unterschiedliche kulturelle Prägungen in Texten derselben Sprache aus? Solche Fragen haben mediävistische und moderne Komparatistik gemein, auch wenn die Antworten gewiss unterschiedlich ausfallen. Gerade deshalb aber ist ein Austausch für beide Seiten befruchtend.
Also kann die moderne Komparatistik von der Mediävistik lernen?
Ja, das mag unbescheiden klingen, aber so ist es durchaus gemeint! Auch für wissenschaftliche Disziplinen gilt: Um die Besonderheit eines Gegenstandes oder auch seiner Selbst zu ermessen und zu verstehen, ist man auf Vergleichskontexte angewiesen. Auch deswegen ist es wichtig, dass Kultur- und Geisteswissenschaftler_innen, die sich mit unterschiedlichen Epochen befassen, miteinander ins Gespräch kommen und ihre Untersuchungsmethoden und Terminologien miteinander vergleichen, also Komparatistik gewissermassen auf sich selbst anwenden. Dass von der Mediävistik dabei einiges zu lernen ist, ist eine der Annahmen, die dem Freiburger Colloquium 2021 zugrunde liegen. Aber natürlich werden auch wir Mediävisti_innen gewiss Denkanstösse in umgekehrter Richtung erhalten.
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- Freiburger Colloquium 2021
- Organisiert wird das Freiburger Colloquium 2021 vom Italianisten Prof. Paolo Borsa, vom Hispanisten Prof. Hugo Bizzarri, von der Anglistin Prof. Elisabeth Dutton, von der Romanistin Prof. Marion Uhlig und der Germanistin Prof. Cornelia Herberichs.
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