Das grosse Puzzle: Uni Freiburg setzt Geschichte neu zusammen

Das grosse Puzzle: Uni Freiburg setzt Geschichte neu zusammen

Was haben Fensterscheiben, Schuhe, Truhen, Sättel, Hauswände und Bücher gemeinsam? Sie alle wurden im Mittelalter und in der frühen Neuzeit mitunter aus Makulatur von Pergamenthandschriften gefertigt. Was erst als Schriftstück diente, erhielt eine neue Aufgabe als Isolationsmaterial, Verkleidung oder Stabilisierung – wenig wurde weggeworfen. Und genau davon profitiert die Wissenschaft heute.

An der Universität Freiburg wird Geschichte zusammengesetzt – aus Hunderttausenden von Fragmenten, die rund um den Globus versteckt sind. Was vor ein paar hundert Jahren als Makulatur verwendet wurde um Ressourcen zu schonen, erzählt die Geschichte der Menschheit teilweise auf eine ganz neue Art. Im evangelisierten Skandinavien beispielsweise wurden im 16. Jahrhundert die mittelalterlichen Handschriften, die in katholischen Klöstern entstanden waren, als Einbandmakulatur verarbeitet. Damit wurden etwa behördliche Akten eingebunden. Gerade in den nordischen Ländern gibt es seit der Reformation fast keine vollständigen Handschriften mehr, aber zehntausende von Fragmenten. Deshalb wurde dort bereits im letzten Jahrhundert damit begonnen, die Teile von liturgischen Handschriften wie Antiphonare, Psalter oder Graduale in den Akten zu beschreiben.


An der schwarzen Stelle befand sich eine Buchmalerei, die herausgeschnitten wurde. Orselina, Convento della Madonna del Sasso, Codice I, f. 24v – Graduale Fratrum Minorum.

Unsichtbares entziffern

Dank der Wiederverwendung von aussortierten Büchern (Makulierung) ist ein wichtiger Teil des mittelalterlichen Handschriftenerbes bis heute nicht verloren gegangen. „Auch wenn häufig nur wenige Seiten eines alten Codex wieder rekonstruiert werden können, gibt das für die Forschung einen enormen Aufschluss über die Textgeschichte einerseits und den Umgang mit Handschriften(-fragmenten) andererseits“, betont Projektmitarbeiter und Freiburger Forscher Martin Wünsche. Die Fragmente müssen jedoch speziell behandelt und neu zusammengesetzt werden, damit wir sie richtig erforschen können. Zum Heben dieser Schätze müssen aber nicht nur exakt die passenden Teile zusammenfinden – sie müssen auch noch entziffert werden. Viele Fragmente wurden etwa abgeschabt oder abgewaschen und überschrieben. Dank neuesten Techniken wie Spektralphotographie oder RTI (Reflectance Transformation Imaging) können nun auch Schriften, die nicht von blossem Auge sichtbar sind, wieder gelesen werden. Nur sind genau diese Bruchstücke oft auch in der ganzen Welt verstreut. Das heisst, was im Jahre 900 ein Buch war, wurde vielleicht als Makulatur teilweise zu einem Schuh, später zu Isolationsmaterial und schliesslich zum Abdichten eines Burggrabens verwendet. Eine weitere halbe Seite könnte sogar den Weg als Verpackungsmaterial bis nach Asien zurückgelegt haben.

Abb3Corr
Der Text (dunkle Schrift im Hintergrund) wurde abgeschabt und das Pergament wiederbeschrieben. Dank Spektralfotografie, die UV-Licht und Röntgenstrahlung nutzt, wieder sichtbar. Syriac Galen Palimpsest, f. 88v. Pseudocolor-processed image provided by Michael B. Toth.

Social Media der Mediävisten

Neue Technologie schafft auch in der Mediävistik neue Wege: Schon seit 2005 digitalisiert e-codices Handschriften aus der ganzen Schweiz. „Ziel des Projektes ist es, alle mittelalterlichen und eine Auswahl neuzeitlicher Handschriften der Schweiz durch eine virtuelle Bibliothek frei zugänglich zu machen“, erklärt die Freiburger Forscherin und Projektmitarbeiterin Veronika Drescher. Zurzeit sind 1500 digitalisierte Handschriften in diesem Online-Verzeichnis verfügbar. Auf der gleichen Basis baut nun auch ein weiteres Projekt auf: Fragmentarium – das Laboratorium zur digitalen Fragmentforschung. Dieses Online-Verzeichnis ist spezifisch für die komplexen Anforderungen zur Darstellung von Fragmenten konzipiert. Hier sollen die Nutzer in Zukunft auch selbst hochauflösende Fragmente hochladen und beschreiben. Diese sind dann sofort für alle beteiligten Forschenden verfügbar, das heisst, sie können von ihrem Computer aus Abstände abmessen, Texte transkribieren, Rekonstruktionen erstellen und vieles mehr. Ziel ist es, dadurch zusammengehörige Fragmente schneller und vor allem auch günstiger wieder zueinander zu bringen.


Die sichtbaren Buchstaben sind das spiegelverkehrte Abbild einer Pergamentmakulatur, die dort aufgeklebt worden war. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 63, Vordere Innenseite – Epistolae Pauli. Actus Aposto-lorum. Epistolae catholicae. Apocalypsis.

Vorausgesetzt, die Bedeutung einzelner Fragmente wird nicht verkannt. Dies geschah so zum Beispiel mit einem alternativen Ende von 1001 Nacht. Die NZZ berichtete vor kurzem darüber: „Ganz neu ist dieses glückliche Ende der Geschichte nicht: Der frisch vorliegende Schluss von „1001 Nacht“ basiert auf einem Manuskript, das sich in der Raşit-Efendi-Bibliothek in Kayseri befindet und 1949 durch den Orientalisten Hellmut Ritter (1892-1971) erstmals beschrieben wurde. Ritter liess damals einen Mikrofilm der Handschrift anfertigen, der aber weitgehend unbeachtet blieb. Erst als dieser Mikrofilm vor einigen Jahren digitalisiert und ins Netz gestellt wurde, erwachte das Interesse der Wissenschaft, und auch dasjenige der Übersetzerin und Arabistin Claudia Ott.“ Genau diesen Weg zu Erfolgsgeschichten wollen die Freiburger Forschenden mit Fragmentarium ermöglichen und fördern.

Experten pilgern nach Freiburg

Das Projekt stösst auf enormes Interesse. Auf der Liste der Partner finden sich als Vertreter der Amerikanischen Ivy League die Universitäten Stanford, Yale und Harvard, aber auch die Bodleian Library der Universität Oxford sowie die Österreichische Nationalbibliothek in Wien und die Stiftsbibliothek St.Gallen. Wer in der Handschriftenforschung etwas zu sagen hat, ist mit dabei. Aktuell arbeiten die Freiburger Forschenden an sechs Fallstudien in Oxford, Yale, Paris, Wien, St. Gallen und Leipzig, 2017 folgen nochmals sechs weitere. Dank der Interoperabilität der neuen Plattform Fragmentarium können die Partner einfach und global zusammenarbeiten. „Wir freuen uns sehr über das Interesse an unserer Arbeit. Als Mediävisten sind wir uns nicht so viel Aufmerksamkeit gewohnt!“, so Prof. Dr. Christoph Flüeler, Leiter des Projekts. Fragmentarium entstand aus der Handschriftenforschung und ermöglicht eine ganz neue Art der Zusammenarbeit: „Die einzelnen Teile sind schwer zugänglich und es gibt bisher kaum systematische Kataloge im Gegensatz zu mittelalterlichen Handschriften“, erklärt der Freiburger Forscher. Dies soll sich in Zukunft ändern. Flüeler und sein Team koordinieren die Unterstützung aus der ganzen Welt. Die Hoffnung auf neue Erkenntnisse dank dem „Facebook der Mediävisten“ ist gross. Das Team um Flüeler ist gespannt auf die Ergebnisse: „Wenn man unbekanntes Material erforscht, kann es immer Überraschungen geben. Und Fragmente bergen entsprechend grosses Potential.“

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Author

Studierte Journalismus und Organisationskommunikation, sammelte Agenturerfahrungen in Zürich, Basel und Bern, bevor sie dank einer kleinen Detour via Indonesien den Weg nach Freiburg fand. Als Online-Redaktorin ist sie auf allen mehr oder weniger sozialen Medien schnell unterwegs...

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