Dossier
Das Blut des Bundes
In der christlichen Tradition öffnet das Thema Blut einen ganzen Assoziationsraum – mit interessanten, zum Teil auch überraschenden oder gar erschütternden Figuren. Thomas Staubli und Veronika Hoffmann beleuchten solche Figuren aus verschiedenen Perspektiven.
Der Blutzoll der Juden
Auf einer Wanderung bei Naters im Wallis traf ich im vergangenen Jahr unversehens auf einen in den 1980er Jahren gestalteten Kreuzweg. Bei der Kreuzigungsstation sah ich mich einer Figurengruppe gegenüber, die ich so im öffentlichen Raum im 21. Jh. nicht mehr für möglich gehalten hätte. Zur Linken des Gekreuzigten stand die Synagoge mit gesenktem Haupt, heruntergefallener Krone, einer Augenbinde, einem gebrochenen Stab und herabfallenden Gesetzestafeln, zur Rechten die Ekklesia, ihr gekröntes Haupt zum Heiland erhoben und in den Händen einen Kelch für das Blut Christi haltend. Die Bedeutung des Blutkelchs erschliesst sich nur über das Erste (Alte) Testament. Dort wird mehrfach betont, dass das Blut von Tieren nicht genossen und jenes von Menschen nicht vergossen werden darf. Tierblut – so im Judentum und im Islam bis heute – liess man in den Erdboden sickern. Der enge Zusammenhang zwischen dem rötlichen (edom) Erdboden (adamah), aus dem der Erdling Adam getöpfert wurde und dem Blut (dam), das als Sitz des Lebens galt und Gott allein gehörte, liegt im Hebräischen auch sprachlich auf der Hand. Das Blut von Opfertieren wurde ausserdem als göttliches Geschenk an den Menschen gedeutet. Es soll ihm, weil es Sitz der Lebenskraft sei, im Kult Sühne, also eine Wiedergutmachung bestimmter Sünden erwirken. In einem besonderen Fall, nämlich beim Bundesschluss mit Gott am Berg Sinai, wird sogar das Volk Israel insgesamt mit Blut besprengt, um so den Bund mit Gott zu besiegeln.
Das Bild der Kirche, die das Blut Christi auffängt wie das Blut eines Opferlammes, ist eine extreme Verdichtung christlicher Anknüpfungen an die jüdische Überlieferung. Es deutet Jesu Tod am Kreuz als Schuldopfer mit sühnender Wirkung. Gott hat seinen eigenen Sohn dazu bestellt, durch Hingabe seines Lebens Sühne zu erwirken. Jesus von Nazareth wird zum Lamm Gottes. Mit anderen Worten: Gott selbst hat das Opfer vollzogen, das er Abraham erspart hatte, indem er einen Widder als Ersatz schickte – eine sogenannte Auslegung vom Kleineren zum Grösseren, auf die unzählige Bilder in Kirchen hinweisen. Es müsste in der Bildkonstellation also eigentlich Gott sein, der das Blut seines Sohnes auffängt und es zur Tilgung der Schuld der Täter verwendet. Indem die Kirche an die Stelle Gottes gesetzt wird, wird nicht nur die Kirche vergötzt, sondern zugleich ein Keil zwischen die Kirche und die Synagoge geschlagen. Die Synagoge wird verantwortlich gemacht für das Opfer (fr. victime) Jesus, während die Kirche als fromme Verehrerin und Verwalterin des Opfers (fr. sacrifice) Christi inszeniert wird. Sie ist jetzt das neue Israel mit dem Gott den Blutbund eingeht, repräsentiert im Weinkelch des letzten Abendmahls. Diese antijudaistische Konstruktion ist in einigen Passagen der Evangelien bereits angelegt, von den Kirchenvätern und späteren Theologen dann aber jahrhundertelang entfaltet und gepredigt worden. Sie hat den Blutzoll von Millionen von Juden wenn nicht gefordert, so zumindest mitverursacht. Erst das Zweite Vatikanische Konzil, geweckt vom unermesslichen Blutzoll von sechs Millionen Juden, die während der Schoa ermordet wurden, hat dezidiert vom Antijudaismus Abstand genommen. In Nostra Aetate, dem Dokument über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen, heisst es ausdrücklich, man dürfe «die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen, als wäre dies aus der Heiligen Schrift zu folgern.» In Naters scheint diese Botschaft noch nicht angekommen zu sein.
Thomas Staubli
Blut als Zeichen des Lebens
Die biblischen Vorstellungen von der Bedeutung des Blutes haben gezeigt, dass moderne Assoziationen in die Irre führen können. Wenn Christen den gekreuzigten Christus ins Zentrum ihres Glaubens rücken, dann soll damit nicht Gewalt verherrlicht werden. Wohl wird Gewalt dargestellt. Aber es handelt sich um Gewalt, die Menschen einem Unschuldigen angetan haben. Nicht ein göttlicher Zorn, der «Blut sehen» will, ist der Grund für die Kreuzigung Jesu, sondern menschlicher Hass.
Frühchristliche Deutungen dieser menschlichen Gewalttat greifen die alttestamentlichen Assoziationen von «Bund» und «Leben» auf: Einer tritt mit seinem Leben für uns ein. Menschen bringen Jesus in den Tod, sie vergiessen sein Blut, was biblisch verboten ist. Aber Gott macht daraus ein Zeichen des Lebens, wie das Blut im Opfer- und Sühnekult Zeichen des Lebens ist.
Und wenn Jesus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern auf seinen Tod vorausblickt und ihn deutet, indem er über den Wein sagt «Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird», dann ist damit kein merkwürdiger symbolischer Kannibalismus gemeint. Sondern in einer für die damals Anwesenden unmittelbar verständlichen Weise unterstreicht Jesus die Idee des «Neuen Bundes», indem er auf die Blutbesprengung beim Bundesschluss am Sinai anspielt.
Im frühen Christentum treffen wir eine weitere wirkmächtige Rede von «Blut» im Kontext des Martyriums. «Das Blut der Märtyrer ist der Same der Kirche» lautet ein berühmt gewordener Satz von Tertullian. Er meint, dass der Lebenseinsatz der Märtyrer_innen andere beeindruckt und dazu geführt hat, dass sie sich zum Christentum bekehrten. Dieser Satz ist auch deswegen interessant, weil er zeigt, wie im Bild vom Blut die Vorstellung von Leben und Tod, Hingabe und Gewalt dicht beieinander liegen und zu nicht unproblematischen Deutungsverschiebungen führen können. Zunächst scheint zwar für das Martyrium die Lage ähnlich eindeutig zu sein wie im Blick auf die biblische Tradition. Denn «Märtyrer_innen» heissen im frühen Christentum ausschliesslich die, die freiwillig und unschuldig ihren eigenen Tod auf sich nehmen. Niemand darf dabei andere mit in den Tod reissen! Wie bei Jesus bezeichnet auch hier das Bild des Blutes die Hingabe des Lebens für die eigene Überzeugung oder für die anderen, nicht die Verherrlichung erlittener Gewalt.
Aber faktisch liegen die Dinge nicht immer so eindeutig. Vielleicht hat die Pluralität der möglichen Assoziationen zur Rede vom «Blut» dazu beigetragen? Jedenfalls hat sich das Verständnis des Martyriums zum Teil gedreht. Wenn Tertullian brutale Foltermethoden schildert oder bildliche Darstellungen die ganze Grausamkeit solcher Martyrien in Szene setzen, dann mag es darum gehen, die Standhaftigkeit der derart Leidenden zu betonen. Aber kann die Betrachtung solcher Bilder nicht auch zu einer heroisierenden und quantifizierenden Lesart verführen – nach dem Motto: je grausamer das Leiden, desto heldenhafter das Martyrium?
Das Christentum ist der Gefahr einer Verherrlichung des Leidens nicht immer entkommen. Nicht zuletzt im Blick auf Jesus Christus selbst gibt es Deutungen – und filmische Darstellungen –, in denen es entscheidend zu sein scheint, dass möglichst viel (Film-)Blut fliesst. Dann wird aus dem Blut als Zeichen der Lebenshingabe ein Zeichen für eine Form von Gewalt, die zu erleiden «gut» zu sein scheint.
Vielleicht sind solche Ambivalenzen unvermeidlich, weil das Bild des Blutes ambivalent ist. Es kann auf den Tod wie auf das Leben, auf Hingabe wie auf Gewalt verweisen – und auf die Verbindungslinien, die dazwischen bestehen können. Will man Missverständnissen und Missbrauch vorbeugen, lohnt es sich, nach dem hermeneutischen Schlüssel für die jeweilige Bildverwendung zu suchen. Für die christliche Bildrede vom Blut heisst das, die biblischen Quellen zu befragen und sich von ihnen sagen lassen, dass Leid und Gewalt nicht religiös sanktioniert werden können. Blut bezeichnet nicht den Tod, sondern das von Gott geschenkte Leben.
Veronika Hoffmann
Unser Experte Thomas Staubli ist Oberassistent an der Theologischen Fakultät. Zurzeit betreut er ein SNF-Agora-Projekt zur kontextuellen Auslegung des Ersten Testamentes im Gottesdienst: projects.unifr.ch/bkw/de.
thomas.staubli@unifr.ch
Unser Expertin Veronika Hoffmann ist Professorin für Dogmatik und Theologische Propädeutik. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören der religiöse Zweifel und religiöse Indifferenz.
veronika.hoffmann@unifr.ch