Dossier

«Ohne Hanf kein Kolonialismus»

Pflanzendrogen umfassen viel mehr als nur Rauschgift, erklären Nicolas Küffer und Jacques Sciboz vom Botanischen Garten der Universität Freiburg im Gespräch über Gift-, Heil- und andere Pflanzen. 

Bei «Drogen» denke ich zuerst an Schwarzgeld, Gewalt und mexikanische Kartelle. Davon ist hier im Botanischen Garten der Universität Freiburg natürlich nichts zu spüren.

Nicolas Küffer: Wenn heute von Drogen die Rede ist, geht es meist um Rauschgift. Doch in der Pflanzenheilkunde umfasst der Begriff «Droge» mehr: Er bezeichnet diejenigen Pflanzenteile, die pflanzliche Wirkstoffe enthalten und für die Herstellung von Arzneimitteln verwendet werden. Das können die Blätter, Blüten, Früchte oder auch Wurzeln von Heilpflanzen sein. Eine der bekanntesten und ältesten Anwendungsformen von Pflanzendrogen ist etwa die Zubereitung von Kräutertee. Mit der Zeit hat sich der Gebrauch des Begriffs gewandelt. Doch auch heute wird die ursprüngliche Bezeichnung noch verwendet, wie sich etwa an den Drogerie-Geschäften erkennen lässt, die immer noch Arzneidrogen verkaufen.

Jacques Sciboz: Leider sind die Drogerien in Freiburg am Verschwinden, aber es gibt noch welche in Romont oder Bulle, die auch eigene Zubereitungen herstellen etwa in Form von Kapseln oder auch Salben. Wir bieten hier im Garten für zukünftige Drogistinnen und Drogisten sowie für angehende Apothekerinnen und Apotheker Führungen an. Sie müssen im Laufe ihrer Ausbildung lernen, pflanzliche Drogen auseinanderzuhalten.

Nicolas Küffer: Das kann sehr einfach sein, etwa im Falle von Preiselbeeren oder Knoblauchzehen. Aber wenn die Pflanzenteile zerrieben sind, wird es schwieriger. Dann hilft einem oft auch der Geruch weiter.

Jacques Sciboz: Beim Geruch spielen meist ätherische Öle eine Rolle, die auch innerhalb einer Pflanzenart unterschiedlich zusammengesetzt sein können. So gibt es etwa drei verschiedene Chemotypen oder Sorten von Rosmarin – und noch mehr Sorten von Thymian.

Wieviele verschiedene Heilpflanzen gibt es denn hier im Botanischen Garten?

Jacques Sciboz: Wir haben einen für Medizinalpflanzen reservierten Bereich im Garten mit ungefähr 200 verschiedenen Pflanzenarten. Eine genauere Zahl kann ich nicht nennen, weil manche Pflanzenarten, während ein oder zwei Jahren ausfallen, aber dann wieder dazustossen können.

Nicolas Küffer: Weltweit gibt es Tausende von verschiedenen Heilpflanzen, aber wir haben uns auf Arten beschränkt, die hier auch ohne Gewächshäuser wachsen können.

Für welche Pflanzen interessiert sich das Publikum bei Ihren Führungen durch den Garten am meisten?

Jacques Sciboz: Giftpflanzen stossen immer auf ein gewisses Interesse. Aber viele Leute interessieren sich auch für Pflanzen mit ätherischen Ölen. Mir fällt auf, dass bei älteren Leuten meist noch mehr aus früheren Zeiten übertragenes Pflanzenwissen vorhanden ist als bei den Jungen.

Nicolas Küffer: Um die Jungen bei der Stange zu halten, braucht es andere Bezugspunkte. Harry Potter funktioniert zum Beispiel sehr gut. Tatsächlich sind einige Pflanzen, die Harry und seine Freunde in der Zauberschule kennenlernen, sehr eng an die Realität angelehnt. Die Wurzeln der Alraune sehen auch in unserem Garten aus wie ein kleines Männchen – und machen Geräusche, wenn man versucht, sie aus dem Boden auszureissen. Viele Junge finden es auch spannend, wenn sie realisieren, wie eng einige Medizinalpflanzen mit modernen Drogen verknüpft sind. Das Kraut des Meerträubchens etwa dient als Ausgangsstoff zur Herstellung von Methamphetamin, einem euphorisierenden Bestandteil vom weit bekannten Crystal Meth.

Jacques Sciboz: Für den Botanischen Garten sind Pflanzen, aus denen man Rauschgifte gewinnt, ein zweischneidiges Schwert. Denn einerseits wecken sie grosses Interesse, aber andererseits werden auch immer wieder Pflanzen wie der Peyotl-Kaktus entwendet. Auch einige Hanfpflanzen kommen uns fast jedes Jahr abhanden, obwohl sie kein THC enthalten.

Seit wann gibt es Heilpflanzengärten?

Nicolas Küffer: Die ersten Botanischen Gärten wurden in Norditalien gegründet. Der älteste Garten liegt seit 1544 in Padua, weitere alte Gärten gibt es auch in Pisa, Bologna und Florenz. Der erste Botanische Garten in der Schweiz entstand 1589 in Basel. Der Botanische Garten in Fribourg wurde 1937 angelegt.

Jacques Sciboz: Aber eigentlich sind die Botanischen Gärten aus den Klostergärten hervorgegangen, in denen Nonnen und Mönche schon im frühen Mittelalter Heilpflanzen kultivierten und nutzten.

Nicolas Küffer: Ja, die frühen Botanischen Gärten waren den Klostergärten sehr ähnlich. Im Unterschied zu diesen waren Botanische Gärten allerdings an eine Universität angebunden. Es ging deshalb nicht nur um die Nutzung von Heilpflanzen, sondern auch um Lehre und Forschung.

«Entscheidend ist die Dosis: Wenn Heilpflanzen in zu hoher Konzentration eingenommen werden, sind sie giftig» Nicolas Küffer

Was ist der Unterschied zwischen Gift- und Heilpflanzen?

Nicolas Küffer: Die Grenze ist unscharf und oft sehr schmal. Entscheidend ist die Dosis: Wenn Heilpflanzen in zu hoher Konzentration eingenommen werden, sind sie giftig.

Jacques Sciboz: Allerdings können sich die Pflanzen bezüglich der Inhaltsstoffe stark unterscheiden. Denn die Konzentration der aktiven Substanzen hängt nicht nur von den genetischen Eigenschaften ab, sondern auch von zahlreichen anderen Faktoren, wie etwa der Bodenbeschaffenheit, oder der Menge an Sonnenlicht.

Wie merkt man, ob eine Pflanze giftig ist?

Jacques Sciboz: Viele giftige Pflanzen schmecken bitter oder sonstwie abstossend. Allerdings gibt es auch Ausnahmen, zum Beispiel die Tollkirsche. Ihre Beeren sehen attraktiv aus, sie glänzen schwarz. Zudem habe ich festgestellt, als ich versuchshalber eine davon gegessen habe, dass sie saftig sind und leicht süss schmecken. Trotzdem sind sie stark giftig, zehn bis zwölf Beeren können Erwachsene töten, und bei Kindern reichen sogar nur drei oder vier Beeren. Manche Personen fragen mich, wieso wir solche Vergiftungsrisiken eingehen: Weil wir die Bevölkerung aufklären wollen. Die Tollkirsche ist im eurasiatischen Raum daheim und ist hier in vielen Wäldern zu finden.

Nicolas Küffer: Die Tollkirsche gehört – wie auch die Tomaten und die Auberginen – zur Familie der Nachtschattengewächse. Dieser Name tönt an sich zwar schon düster. Er wird aber noch mysteriöser und gefährlicher, wenn man bedenkt, dass der Schatten im Namen wahrscheinlich vom Althochdeutschen abstammt – und sich auf den Schaden bezieht, den die giftigen Inhaltsstoffe der Pflanzen anrichten können.

Wieso produzieren Pflanzen überhaupt Giftstoffe?

Nicolas Küffer: Das ist eine gute Frage. Pflanzengifte sind so genannte Sekundärinhaltsstoffe, das heisst, sie sind für das Primärwachstum nicht unbedingt notwendig: Eine Pflanze kann auch wachsen und Früchte bilden, ohne diese Stoffe zu produzieren. Dass sie einen Teil ihrer Energie dafür aufwendet, ein Gift herzustellen, wird oft damit erklärt, dass sie sich so vor Fressfeinden schützt. Tatsächlich sind zum Beispiel die grünen, unreifen Früchte bei den wilden Verwandten der Tomate stark giftig. Doch wenn die Früchte dann reifen und rot werden, verlagert die Pflanze ihre Giftstoffe in die Blätter und die Wurzeln. So können Vögel und andere Tiere die Früchte essen – und die Samen verteilen, ohne an einer Vergiftung zu sterben. Aber diskutiert werden auch andere Funktionen, zum Beispiel locken einige Inhaltsstoffe in ätherischen Ölen Nützlinge an.

Jacques Sciboz: Ausserdem sind einige Stoffe, die für uns giftig sind, für andere Organismen völlig harmlos. Schnecken etwa können problemlos Tollkirschen fressen. Oder die Eibe: Für uns sind ihre Nadelblätter giftig, aber Rehen machen sie nichts aus.

Aus der Fotoserie USA Opioid crisis © Jérôme Sessini | Magnum Photos. April 2018, USA, Philadelphia. Sara, 35, raucht unmittelbar nach einer Heroin-Injektion eine Crack-Pfeife. Sie begann mit 13 Jahren, nach einem Autounfall, Morphium und Oxycodon zu konsumieren. Ihre fünf Kinder wurden ihr von der Fürsorge entzogen. Zusammen mit anderen Süchtigen lebt Sara unter einer Brücke an der Kensington Avenue. «Ich habe keine Angst vor einer Überdosis oder vor dem Tod.» In Kensington, einem Viertel im Norden Philadelphias lebt die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

Wie haben die Menschen entdeckt, was für Wirkungen die Pflanzen haben?

Jacques Sciboz: Das weiss niemand, denn oft handelt es sich um Wissen, das während Tausenden von Jahren von Generation zu Generation überliefert wurde. Am Anfang standen wohl Neugierde und Experimentierfreudigkeit. Wahrscheinlich ereigneten sich auch ungewollte Unfälle, aus denen unsere Vorfahren dann Schlüsse gezogen haben. Einige Anthropologen denken, dass die Einnahme gewisser Pflanzenextrakte wie etwa Ayahuasca Schamanen die Fähigkeit verleiht, weitere Heilpflanzen zu entdecken.

Nicolas Küffer: Von der Antike bis ins Spätmittelalter war auch die Signaturenlehre verbreitet, wonach Zeichen in der Natur als Merkmale auf Ähnlichkeiten und Verwandtschaften hinweisen. So dachte man zum Beispiel, dass das Leberblümchen gegen Leberleiden helfe, weil die Blätter dreilappig sind. Das hat sich später als falsch herausgestellt. Nichtsdestotrotz ist die Pflanzenheilkunde eine grosse kulturelle Leistung der Menschheit. Denken Sie zum Beispiel an den Kaffee: Unsere Vorfahren mussten nicht nur die Bohne entdecken, sondern auch herausfinden, dass man sie zuerst schälen, dann rösten, mahlen und zuletzt mit heissem Wasser aufgiessen muss, um ein wachmachendes und schmackhaftes Getränk herzustellen.

Jacques Sciboz: Ich finde die Frage des Wissenserwerbs wirklich faszinierend. Nicht nur in Bezug auf die Heilpflanzen, sondern zum Beispiel auch in Bezug auf die Farbstoffe. Um etwa Textilien blau zu färben, wurde früher die Färber-Waid verwendet, ein Kohlgewächs mit gelben Blüten und grünen Blättern, die man zerquetschen muss. Das ergibt zuerst eine grüne Flüssigkeit. Erst wenn der Farbstoff an der Luft oxidiert, werden die Textilien blau. Das ist heute noch fast magisch. Wie sind unsere Vorfahren darauf gestossen?

Einige Pflanzenarten, wie etwa der Hanf, werden nicht nur als Heilpflanze genutzt.

Nicolas Küffer: Ja, Cannabis hat eine lange Geschichte. Der Hanf ist eine der ältesten Kulturpflanzen der Menschheit und wurde seit jeher nicht nur als Droge genutzt, sondern auch zur Herstellung von Fasern, Öl und Fetten. Heute wird die Pflanze zudem auch zu sehr vielfältigen medizinischen Zwecken eingesetzt, etwa um Schmerzen zu lindern oder den Appetit zu regulieren.

Jacques Sciboz: Hanffasern gleichen den Fasern von Leinen, aber der Hanf ist vom Anbau her viel einfacher, weil er weniger anspruchsvoll ist in Bezug auf den Boden. Früher wurde der Anbau in Europa stark subventioniert. Denn damals waren die Fasern gefragt, um genügend Seile und Tücher für die Segel der Frachtschiffe herstellen zu können: Ohne Hanf kein Kolonialismus. Ein paar Jahrhunderte später wurde der Anbau verboten – und die Pflanze wurde wegen der Rauschwirkung verteufelt. Aber auch heute noch finden Sie Hanffasern oft in Papiergeld, weil sie sehr widerstandsfähig sind.

Wir haben über die Geschichte von Heilpflanzen gesprochen. Was, denken Sie, erwartet uns in Zukunft?

Jacques Sciboz: Das wachsende Interesse an Heilpflanzen darf nicht dazu führen, dass sie übermässig in der Natur gepflückt werden. So ist etwa die Arnika im Kanton Freiburg zwar weit verbreitet, aber sie wird an einigen Standorten so intensiv genutzt, dass sie selten geworden ist. Forschende versuchen, sie zu kultivieren. Aber das ist nicht einfach, sie braucht einen sauren Boden. Den hat sie hier im Garten eigentlich – und trotzdem gefällt es ihr nicht.

Nicolas Küffer: Die übermässige Nutzung ist auch weltweit ein Problem, so ist zum Beispiel der Peyotl-Kaktus wegen der vielen Touristen, die sich in der texanischen und mexikanischen Wüste nach ihm auf die Suche machten, auf der Roten Liste gelandet. Aber um auf die Frage nach den Zukunftserwartungen zurückzukommen: Ich denke, dass noch weitere Pflanzendrogen entdeckt werden, weil bisher nur erst ein sehr kleiner Teil der Pflanzenwelt erforscht ist.

Jacques Sciboz: Bei unerforschten Gebieten denken viele an den Regenwald. Aber auch hier in Europa liegt noch ein riesiges Potenzial. Dass zum Beispiel das Johanniskraut eine antidepressive Wirkung hat, wurde erst kürzlich entdeckt, obwohl die Heilpflanze – für andere Anwendungen – schon seit langem bekannt ist.

Welche Pflanze mögen Sie am liebsten?

Nicolas Küffer: Ich habe schon eine Lieblingspflanze, aber sie gehört nicht zu den Heilpflanzen. Es ist die Ackerröte. Sie sieht ein bisschen aus wie ein Waldmeister, aber sie hat kleinere und wunderschöne rosarote Blüten.

Jacques Sciboz: Mir wird diese Frage häufig gestellt, aber ich habe grosse Schwierigkeiten, sie zu beantworten. Es gibt schon Pflanzen, die ich lieber mag als andere, aber das hängt auch sehr von der Jahreszeit ab. Grundsätzlich beglückt mich die Pflanzenwelt die ganze Zeit.

Unser Experte Nicolas Küffer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Botanischen Garten der Universität Freiburg.
nicolas.kueffer@unifr.ch 

Unser Experte Jacques Sciboz ist Gärtner am Botanischen Garten der Universität Freiburg und unter anderem für die Medizinalpflanzen zuständig.
jacques.sciboz@unifr.ch