Forschung & Lehre

«Biodiversität ist wie Kunst»

Beim Sichten und Gewichten von Daten ist künstliche Intelligenz dem menschlichen Urteilsvermögen deutlich überlegen, sagt Daniele Silvestro. Die Bewertung des kulturellen oder spirituellen Reichtums einer Landschaft hingegen sollte dem Menschen überlassen bleiben, so der Evolutionsbiologe.

Daniele Silvestro, Sie haben eine Software entwickelt, die aufzeigt, wie begrenzte finanzielle Mittel eingesetzt werden können, um möglichst viele biologische Arten zu erhalten. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, für den Naturschutz auf künstliche Intelligenz zu setzen?

Ich bin kein Feldbiologe, sondern arbeite am Computer. In meiner Gruppe befassen wir uns schon seit Jahren mit evolutionsbiologischen Modellen. Wir entwickeln Software, die natürliche Prozesse nachahmt und uns zum Beispiel zu verstehen hilft, wie neue Arten entstehen. Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir nicht länger ignorieren können, was mit der biologischen Vielfalt geschieht. Deshalb haben wir uns gefragt: Wie können wir mit rechnergestützten Methoden zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen? So sind, in Zusammenarbeit mit anderen Forschenden, schliesslich zwei Anwendungen der künstlichen Intelligenz entstanden. Eine, um das Aussterberisiko einzelner Arten abzuschätzen. Und die andere, um innerhalb eines definierten Gebiets zu bestimmen, auf welchen Arealen Naturschutzgebiete errichtet werden sollten, um möglichst vielen Arten ein Über-leben zu ermöglichen.

Wie lernt die Maschine, den biologischen Wert von Naturschutzgebieten zu beurteilen?

Wir haben dafür auf das so genannte reinforcement learning, also auf das bestärkende Lernen, zurückgegriffen. Bisher kam diese Methode zum Einsatz, um Computern verschiedene Spiele – wie etwa Schach oder Go – beizubringen. Das Spezielle an dieser Methode ist, dass die Software zu Beginn nicht in der Lage ist, das Spiel zu lösen. Man gibt ihr nur die Spielregeln vor und belohnt sie für jedes Spiel, das sie gewinnt. Dann lässt man sie die Software viele, viele Male spielen, damit sie aus ihren Fehlern lernen und Erfahrung sammeln kann.

Bestärkendes Lernen klingt pädagogisch. Auch Hunde oder Kinder werden belohnt, wenn sie sich wie gewünscht verhalten.

Ja, es geht um das genau gleiche Prinzip. Wie die Kinder ist auch die Software oder der Algorithmus darauf ausgelegt, die Belohnung oder die Ausbeute zu optimieren. Das Spiel für unseren Algorithmus ist der Naturschutz. Und das angestrebte Optimum ist eine möglichst hohe Anzahl Arten, die es vor der Ausrottung zu retten gilt. Um den Algorithmus zu trainieren, haben wir eine Simulation von Ökosystemen programmiert. Sie enthalten Tausende von Arten und Millionen von virtuellen Individuen, die sich fortbewegen, vermehren und sterben. Die simulierten Ökosysteme stehen zunächst im Gleichgewicht, doch dann bauen wir in der Simulation auch den menschlichen Einfluss ein. Und zwar als Umweltbelastung, die an manchen Orten stärker ist als an anderen, die insgesamt jedoch mit der Zeit immer grösser wird. Der Agent – also der Teil unseres Programms, der das Naturschutzspiel mit einem festgelegten Budget spielt – versucht, die negativen Auswirkungen der zunehmenden Umweltbelastung möglichst aufzufangen. Beim Spielen in diesen hunderten von verschiedenen simulierten Ökosystemen entdeckt der Agent einige allgemeine Regeln. In den virtuellen Welten bedeuten sie nichts, aber wenn man der eingeübten Software dann reelle Daten zur Verfügung stellt, erhält man eine Karte mit den Flächen, wo der Agent prioritär Schutzgebiete errichten würde.

Grüner See, im Regenwald von Andasibe Nationalpark, Madagaskar. Getty Images

Sind das nicht einfach die artenreichsten Flächen in einem Gebiet?

Nein, denn der Agent lernt etwa auch auf die Redundanz und Komplementarität von unterschiedlichen Schutzgebieten zu achten. So wählt er eine Kombination von sehr artenreichen und weniger artenreichen Flächen aus, die zusammen aber mehr Arten beherbergen als in den einzelnen Gebieten vorhanden sind. Wir haben gezeigt, dass die Software dem naiven menschlichen Urteilsvermögen deutlich überlegen ist.

Wir haben uns daran gewöhnt, dass lernende Maschinen Schach spielen oder Texte übersetzen können. Dass künstliche Intelligenz, kurz: KI, auch beim Naturschutz eine Rolle spielen kann, hatte ich nicht erwartet.

KI durchdringt unser Leben, sie befindet sich in unseren Telefonen und in unseren Autos. Sie spielt auch in verschiedenen Bereichen der akademischen Forschung eine immer grössere Rolle. Die Vorteile dieser Technologie bei der Datenverarbeitung sind offensichtlich, auch in Umweltfragen. Wir haben unserer Software zum Beispiel einen Datensatz mit der räumlichen Verbreitung von 1500 Baumarten auf Madagaskar vorgesetzt. Ich hatte zuerst befürchtet, dass uns der Agent eine verrauschte, unübersichtliche Karte der Insel präsentieren würde. Doch glücklicherweise war das Resultat eine Karte mit klar ersichtlichen Prioritätsclustern, die sich ziemlich einfach interpretieren lässt.

Wieso haben Sie mit Ihrer Software Daten aus Madagaskar ausgewertet?

Einerseits, weil uns dieser hochwertige Datensatz zur Verfügung stand. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor Ort haben bei der Kartierung der biologischen Vielfalt wirklich hervorragende Arbeit geleistet. Andererseits ist Madagaskar einer der weltweit bedeutendsten Hotspots der biologischen Vielfalt. Die Insel hat sich vor rund 80 Millionen Jahren von Afrika und Indien abgespalten. In dieser Zeit hat sich eine einzigartige Ansammlung von Pflanzen, Tieren und Pilzen entwickelt. Der grösste Teil der dort heimischen Flora und Fauna ist endemisch, das heisst, diese Organismen kommen sonst nirgendwo vor.

Haben die madagassischen Behörden nun aufgrund Ihrer Resultate die Naturschutzpolitik auf der Insel angepasst?

Wir haben – zusammen mit Vertreter_innen der Forschungsgemeinschaft auf Madagaskar – kürzlich zwei Reviews veröffentlicht, in denen wir aufzeigen, dass die Schutzgebiete insgesamt etwas mehr als zehn Prozent der Landfläche Madagaskars ausmachen. Sie decken einen grossen Teil der bekannten Verbreitungsgebiete der dort vorkommenden Tiere und Pflanzen ab. Wichtiger als neue Schutzgebiete zu schaffen ist aus unserer Sicht deshalb, die Wirksamkeit der schon bestehenden Schutzgebiete zu verbessern, etwa indem die Bevölkerung vor Ort einbezogen wird und auch neue Einkommensmöglichkeiten geschaffen werden. Massnahmen zum Artenerhalt müssen die weitverbreitete Armut und Ernährungsunsicherheit angehen, die zu den eigentlichen Ursachen des Biodiversitätsverlusts auf der Insel gehören.
Uns ging es mit unserer Software nie darum, dass Computer entscheiden sollen, wo was zu schützen ist. Diese Entscheidung müssen Menschen fällen. Allerdings kann die KI sie dabei unterstützen, etwa bei der Sichtung und Gewichtung der Daten.

Was passiert, wenn die Daten unvollständig oder fehlerhaft sind?

Der Agent unserer Software ist natürlich darauf angewiesen, dass er weiss, wo sich die biologische Vielfalt befindet, damit er entscheiden kann, welche Gebiete er schützen würde. Im Unterschied zur Simulation ist dieses Wissen in der Realität lückenhaft. Wir haben gezeigt, dass unsere Software etwas weniger gute Ergebnisse erzielt, wenn sie mit Näherungswerten oder Ungenauigkeiten in den Daten umgehen muss. Aber einen viel grösseren Einfluss auf die Qualität der Resultate hat die Berücksichtigung der zeitlichen Dynamik. Wenn der Agent an einem bestimmten Zeitpunkt Schutzgebiete ausscheidet – und nach einigen Jahren erneut definiert, wo zusätzliche Schutzgebiete entstehen sollen, liefert er viel bessere Resultate, wenn er sich die Verteilung der Biodiversität noch einmal anschauen und zum Beispiel berücksichtigen kann, wo in der Zwischenzeit neue Strassen gebaut worden sind. Im Vergleich mit einem einmaligen Monitoring zu Beginn profitiert der Agent von möglichst kontinuierlichen Messungen der Biodiversität.

Aber das macht den Artenschutz doch teurer?

Nicht unbedingt, denn es gibt immer mehr Technologien, die ein kostengünstiges regelmässiges Monitoring der Biodiversität ermöglichen. So werden zum Beispiel jetzt schon Satellitendaten als eine Art Frühwarnsystem zum Schutz der Natur verwendet, um etwa illegale Abholzungen in Regenwäldern oder verbotene Befischungen in Meeresschutzgebieten aufzudecken. Hinzu kommen weitere neue Überwachungsmethoden, etwa mit Drohnen. Oder mit der Beteiligung der Bevölkerung, beispielsweise im Rahmen von so genannten Citizen-Science-Projekten. Und ausserdem spielen Analysen des Erbguts in der Umwelt eine zusehends grössere Rolle. Ein Fingerhut voll Waldboden genügt, um sich der bis noch vor wenigen Jahren weitgehend unbekannten Vielfalt der Wirbellosen gewahr zu werden.

Bis zum Jahr 2030 sollen 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche unter Schutz gestellt werden – so hat es kürzlich die internationale Staatengemeinschaft an der 15. Weltbiodiversitätskonferenz beschlossen.

Das ist erfreulich. Auch hier kann die KI helfen, denn es gibt sehr viele Faktoren und Interessengegensätze, die betrachtet werden müssen. Wenn wir unserer Software vorgeben, eine möglichst grosse Fläche, anstatt eine möglichst grosse Anzahl Arten zu schützen, erleidet die Biodiversität grosse Verluste. Es sollte also nicht darauf hinauslaufen, dass nur Wüsten geschützt werden, die eine geringe Artenvielfalt aufweisen – und vielleicht gar nicht schutzbedürftig sind, weil sie sowieso unzugänglich und weit abgelegen sind. Das Ausscheiden von Schutzgebieten muss schlau – und nicht nur billig – gemacht werden.

Das vereinbarte Ziel hält allerdings nicht die Anzahl Arten fest, sondern nur die Fläche, die es zu schützen gilt. Also werden viele Regierungen versucht sein, den billigen Weg zu wählen.

Die allermeisten Regelungen können zum Nutzen oder zum Schaden umgesetzt werden. Vor Kurzem habe ich mit Leuten von einem Unternehmen gesprochen, das in Afrika Land gekauft hat – und darauf nun rasch wachsende Eukalyptus-Bäume aus Australien anpflanzt, um auf dem Klimakompensationsmarkt CO2-Gutschriften verkaufen zu können. Natürlich speichern diese Bäume Kohlenstoff, doch für die Artenvielfalt gehört das Einbringen gebietsfremder Pflanzen zum Schlimmsten, was man tun kann. Stattdessen könnte man die Fläche mit einheimischen Baumarten wiederaufforsten. Das gäbe etwas weniger Geld, weil die Bäume etwas langsamer wachsen, aber dafür wäre es genau das Richtige für die Artenvielfalt.

In Ihrem Modell hängen die Kosten für ein Schutzgebiet in erster Linie davon ab, ob es in der Nähe menschliche Aktivitäten gibt.

Ja, die Logik gründet darauf, dass Menschen oder zumindest ihre wirtschaftlichen Aktivitäten verlagert werden müssen, wenn ein Gebiet neu als Schutzgebiet deklariert wird. Deswegen sind abgelegene Gebiete, bei denen niemand umgesiedelt werden muss, am günstigsten.

Was würde passieren, wenn in diesen abgelegenen Gebieten seltene Mineralien oder Ölvorkommen gefunden würden?

Das würde das Bild natürlich verändern. Aber solche Vorkommen liessen sich leicht im Modell implementieren. Würden diese Gebiete geschützt, hiesse das, dass diese Schätze nicht ausgebeutet werden könnten. Und dass den Unternehmen deshalb Entschädigungen ausbezahlt werden müssten. Von der Logik her ist das ähnlich wie bei den Schutzgebieten im Meer. Obwohl diese Flächen niemandem gehören und also nicht abgekauft werden müssen, sind marine Schutzzonen mit Kosten verbunden. Denn die Menschen, die dort nicht mehr fischen dürfen, werden für ihre Einkommensverluste entschädigt.

Wo liegen die Grenzen Ihres Modells?

Es gibt Gebiete und Landschaften, die für die Menschen vor Ort einen grossen kulturellen oder teilweise auch spirituellen Wert haben. Solche zutiefst menschlichen Aspekte lassen sich nicht mit dem biologischen oder ökonomischen Wert eines Gebiets aufrechnen. Meiner Meinung nach sollten solche Werte deshalb auch nicht von Maschinen gewichtet, sondern im direkten Austausch besprochen und verhandelt werden. Dass KI-Modelle mit zwischenmenschlichen Auffassungen ihre Mühe haben und eben nur vermeintlich objektiv sind, hat sich schon mehrmals gezeigt. Ein klassisches Beispiel: Wenn man der Gesichtserkennungs-Software den Auftrag gibt, ein verpixeltes Bild von Barack Obama zu rekonstruieren, erhält man das Porträt eines Weissen, weil die KI auf eine unausgewogene Weise trainiert wurde.

Haben Sie mit Ihrer Software auch die Situation in der Schweiz ausgewertet?

Nein, noch nicht. Aber das würde ich sehr gerne tun, denn es gibt sehr viele Daten, sowohl zur räumlichen Verteilung der biologischen Vielfalt wie auch zu den menschlichen Aktivitäten und der damit einhergehenden Umweltbelastung.

Das machen Sie also als Nächstes?

Nein, in unserem nächsten Projekt geht es um die Verbindung zwischen Artenerhalt und Klimawandel. Bisher wurde Naturschutz vor allem mit finanziellem Aufwand in Verbindung gebracht. Doch das hat sich mit dem Klimakompensationsmarkt verändert: Nun lässt sich mit geschützten Wäldern – zumindest potenziell – ein Einkommen erzielen. Allerdings leistet man in der Regel einen schlechten Beitrag zum Schutz der biologischen Vielfalt, wenn man nur auf die Kohlenstoffspeicherung fokussiert. Wir möchten Modelle entwickeln, die den besten Kompromiss zwischen Artenerhalt und Kohlenstoffspeicherung finden.

Sind sie eher optimistisch oder pessimistisch bezüglich der Frage, ob sich das Artensterben aufhalten lässt?

Einerseits finde ich es schwierig, optimistisch zu sein, denn auf der Welt entwickeln sich so viele Dinge in die falsche Richtung. Andererseits bewegt sich aber auch Einiges in die richtige Richtung, so nimmt etwa das Bewusstsein für die Biodiversitätskrise allmählich zu. Die Klimaerwärmung wurde schon vor zehn Jahren breit akzeptiert. Jetzt ist sie offensichtlich, weil sie sich vor unseren Augen entfaltet. Doch das Artensterben fand ausserhalb von Fachkreisen und Naturfreunden bis vor Kurzem fast keine Beachtung. Heute denken die meisten Leute bei bedrohten Arten an Pandas. Dabei geht es um viel mehr, auch um Arten, die weder charismatisch noch hübsch sind, aber trotzdem Teil der biologischen Vielfalt sind, die es zu schützen gilt. Biodiversität ist wie Kunst: Wir müssen einen Punkt erreichen, an dem wir verstehen, dass sie uns nicht nur nützt, sondern dass sie – wie Kunst – einen über ihren Nutzen hinausgehenden Wert hat.

Unser Experte Daniele Silvestro ist Forschungsgruppenleiter am Departement für Biologie der Universität Freiburg und am SIB Swiss Institute of Bioinformatics.
daniele.silvestro@unifr.ch