Forschung & Lehre

Gefroren um zu schmelzen

Der Klimawandel führt im Sommer zu Wasserknappheit – und das an vielen Orten auf der Welt. Was tun? Gletscher bauen? Jawohl: Gletscher bauen.

Vor rund drei Jahren erschien in unserem Heft ein Artikel über Eis-Stupas. Ein Porträt über den Mathematiker Suryanarayanan Balasubramanian (kurz: Surya) und seine riesigen Eisskulpturen. Damals erzählte er davon, wie er im Himalaya im Winter Wasser aus Gletscherbächen abzweigt und bei Minustemperaturen über eine Art Sprinkleranlage oder vielleicht besser: über ein Fontänensystem leitet. Die Wassertropfen gefrieren und bilden – danke Kälte und viel technischem Geschick – im Lauf der Wintermonate eine Art künstlichen Mini-Gletscher. Wobei «Mini» in Anführungszeichen gehört. «Unsere höchsten Konstruktionen erreichen 24 Meter», erklärte Surya damals. «Sie speichern bis zu 3.7 Millionen Liter Wasser und geben beim Schmelzen täglich etwa 11’000 Liter Wasser ab».

Das Schmelzen ist der eigentliche Zweck der Skulpturen, die von der Lokalbevölkerung wegen ihrer Ähnlichkeit mit buddhistischen Tempeln «Stupas» genannt werden. Ihr Schmelzwasser versorgt in den Frühlingsmonaten die Felder der Bäuerinnen und Bauern mit Wasser. Dieses ist aufgrund des Klimawandels seltener geworden. Zwar können auch Eis-Stupas kein Wasser aus dem Hut zaubern, aber sie können Wasser quasi vom Winter in den Frühling und Sommer retten – in die Zeit, wo mehr Wasser gebraucht wird, aber oft weniger vorhanden ist. Das Problem besteht nicht nur im Himalaya, sondern auch in Europa, Nordamerika oder den Anden. Genau deswegen ist Suryas Arbeit weltweit von Interesse. Nach mehreren Jahren Forschung ist er nun am Ende seiner Dissertation angelangt. Es ist also höchste Zeit für ein Update.

Theorie und Praxis

«Meine Forschung war ein Tanz von Theorie und Praxis», erklärt der Mathematiker Surya. «Es ging darum, ein Modell aufzustellen, mit denen sich errechnen lässt, wie die Stupas entstehen und vergehen.» Ein Modell von etwas, das bereits existiert? Wozu? Surya lacht: «Um es künftig noch besser zu machen. Wir haben die Stupas ganz genau beobachtet und vermessen. Ihr langsames Wachsen und Vergehen – sogar Drohnen haben wir dafür eingesetzt! Uns interessierte, wieviel Wasser aufgesprüht wird, wieviel davon gefriert und wieviel wieder verdunstet oder auch einfach nur übers Eis abfliesst. Dabei interessierte uns aber auch, welchen Einfluss das Wetter hatte, die Temperatur, die Bewölkung, die Luftfeuchtigkeit und vieles mehr.» Surya betreute gemeinsam mit Freiwilligen Stupas im indischen Himalaya (in Ladakh), aber auch in der Schweiz. Erste Tests fanden in Schwarzsee statt, der eigentliche Versuch dann in Guttannen im Berner Oberland. Im 263-Seelen-Dorf engagierte sich ein Verein namens «Guttannen bewegt», der sich um den Betrieb der Stupas kümmerte und Interessierten Auskunft und Tee ausgab.

«Die Bedingungen in der Schweiz und Indien sind natürlich komplett verschieden», erklärt Surya, «und genau das machte unsere Arbeit so interessant!» Wenig überraschend führten die tieferen Temperaturen und die höhere Lage dazu, dass die indischen Eisstrukturen rund viermal so gross ausfielen, wie ihre Schweizer Pendants. Ein überraschender Grund dafür war die Verdunstung. «In Ladakh ist die Luft trockener als hier, was die Verdunstung von Wasser fördert. Anfangs spekulierten wir darüber, dass dies zu einem geringeren Wachstum der Stupas führen könnte, aber im Gegenteil: Weil verdunstendes Wasser seiner Umgebung Energie entzieht – wodurch aufgesprühtes Wasser eher gefriert –, trug die Verdunstung wesentlich zum Wachstum der Stupas bei!» Trotzdem gingen an beiden Standorten drei Viertel des Wassers verloren. Es floss schlicht mehr nach, als gefrieren konnte. «Dieser Wasserverlust kann aber künftig verringert werden, wenn die ideale Sprühmenge mit unserem Modell im Voraus berechnet wird. Idealerweise unter direktem Einbezug aktueller Wetterdaten.»

 

© 2020 Suryanarayanan Balasubramanian | Eis-Stupas in Shara, Ladakh
Schlechtes Wetter, gutes Wetter

Paradoxerweise führte das vergleichsweise schlechte Wetter im Berner Oberland dazu, dass dort weniger Wasser gefror. «In Ladakh scheint meistens die Sonne», erklärt Surya. «In Guttannen führte die Wolkendecke zu einem diffusen Licht, dieses trifft von allen Seiten aufs Eis.» Dafür schmolzen die Stupas im Berner Oberland auch deutlich regelmässiger als die indischen, die von der Sonne relativ einseitig beschienen wurden und deshalb früher oder später kollabierten.

Gerade hat Surya ein neues Paper veröffentlicht, mit ausgeklügelten Formeln und den wichtigsten Erkenntnissen seiner Arbeit. Jahr für Jahr verbesserte er nicht nur sein Können im praktischen Bau der Strukturen, auch sein mathematisches Modell wurde mit jedem Mal präziser. Heute lässt sich dank seiner Arbeit das Potential von Stupas an unterschiedlichsten Standorten ziemlich präzise errechnen. So erspart die Mathematik den Menschen in den Anden oder den Rocky Mountains zumindest einen Teil des Weges von Versuch und Irrtum. Die mathematischen Formeln zeigen im Voraus, wo Stupas Sinn machen und wo nicht.

Auch für die Schweiz hat die Stupa-Technik Potenzial. So könnte das Schmelzwasser von Gletscherseen dazu genutzt werden, die Gletscher im richtigen Moment – also in Winternächten – zu besprühen und so dem Gletscherschwund etwas entgegenzuwirken, was Surya auch mit dem Verein «GlaciersAlive» tut. Noch wichtiger ist es ihm aber, den Menschen in den Anden oder dem Himalaya zu helfen, die Folgen des Klimawandels ein kleines Stück abzufedern. Denn die Berechnungen, wie auch konkrete Erfahrung zeigen: Am effizientesten sind Stupas in kalten, trockenen, hoch gelegenen Gebirgsregionen. Natürlich sind die künstlichen Gletscher nur Symptombekämpfung, Eiswürfel auf einem sich erhitzenden Planeten. Aber immerhin.

Und nun?

Mit seiner Forschung leistete Surya Pionier­arbeit. Dementsprechend schwierig war es, realistische Ziele zu definieren. «Niemand wusste, was man mit Wasser- und Wetterdaten vorhersagen kann und was nicht», erklärt er. «Aber wir haben es schliesslich geschafft und haben zudem einmalige Dinge erlebt.» Höhepunkt war die Anwendung der in der Schweiz entwickelten Messkampagne auf die von örtlichen Bauern in
Indien gebauten Eisstrukturen. Surya reiste deshalb wiederholt vor Ort. «Es war eine grossartige Erfahrung, die möglichen Auswirkungen unserer wissenschaftlichen Arbeit in Echtzeit zu sehen. Zudem ist Ladakh

auch einfach eine atemberaubende schöne Gegend. Die Arbeit dort hat sich aufgrund der Corona-Pandemie allerdings erheblich in die Länge gezogen und gestaltete sich in manchen Aspekten viel komplizierter, als erwartet.»

Dank Suryas Arbeit – und der seiner Partner an der Universität Freiburg, in Ladakh oder im Berner Oberland – ist inzwischen sehr viel deutlicher geworden, was Eis-Stupas leisten können und unter welchen Bedingungen sie am besten gedeihen. Den Doktortitel wird der Mathematiker voraussichtlich Ende Jahr in der Tasche haben. Und dann? Ein neues Forschungsprojekt, eine nächste Stufe in der akademischen Karriere? Surya winkt ab. «Ich werde mich weiter mit Eis-Stupas befassen. Ich sehe meine Zukunft aber noch praxisorientierter, in konkreten Kooperationen mit Ingenieuren und der lokalen Bevölkerung. Es gibt noch so viel zu tun!»

 

Eis-Stupas in der Schweiz

In der Schweiz finden seit 2017 verschiedene Versuche mit Eis-Stupas statt. So beispielsweise in Schwarzsee, Guttannen oder Pontresina. Dabei geht es derzeit noch primär darum, erste Erfahrungen mit der Technologie zu sammeln. Gletscher «retten» kann man mit Eis-Stupas nicht. Nur schon, weil beispielsweise der Morteratsch-Gletscher jährlich 15'000 Stupas an Masse verliert. Bei den Schweizer Eis-Stupas geht es vielmehr darum, die Bevölkerung für das Problem der sich abzeichnenden Wasserknappheit infolge der Klimaerwärmung zu sensibilisieren. In Zukunft könnten Eis-Stupas wenigstens punktuell aber auch als Mittel gegen die Trockenheit eingesetzt werden – so etwa im Engadin.
Dieses zählt bereits heute zu den trockensten Regionen der Schweiz und wird gemäss Prognosen noch trockener werden. Überhaupt wird die Trockenheit im Alpenraum zunehmen. In Zukunft könnten deshalb beispielsweise Bauern von Stupas profitieren, es könnten auf Alpen Brunnen dank ihnen befüllt werden und auch für einige SAC-Hütten, die bald weniger Gletscherwasser erhalten werden, ist die Stupa-Technik interessant.

2022 Daniel Bürki | Fünf Meter hohe Eis-Stupas in Guttannen, Haslital (BE)

Unser Experte Suryanarayanan Balasubramanian hat in Chennai, Indien, Mathematik studiert. Er verfasst seine Dissertation über Eis-Stupas am Departement für Geowissenschaften bei Professor Martin Hoelzle.

suryanarayanan.balasubramanian@unifr.ch

Mehr Infos: swisspolar.ch