Dossier

Die dunkle Wahrheit der Incels

Unfreiwillig zölibatär» lebende Männer wollen durchschaut haben, wie die Gesellschaft in Wahrheit läuft. Ihr Wissen ist nicht ganz ungefährlich. Ein Szene-Maulwurf und ein Verschwörungsexperte berichten.

In den 90er Jahren, als im Fernsehen kitschige Serien wie «Dawsons Creek» liefen, gründete eine Studentin eine Online-Selbsthilfegruppe für schüchterne, einsame Menschen, sogenannte Incels, auf der Suche nach Liebe. Incel, ein Kofferwort aus involuntary (dt. unfreiwillig) und celibate (dt. sexuell enthaltsam), war ursprünglich neutral gemeint. Besagte Studentin ahnte zu dem Zeitpunkt nicht, dass sich aus der Selbsthilfegruppe eine Gemeinschaft bilden würde, die vorwiegend aus heterosexuellen Männern besteht. Männer, die Frauen hassen und sie im Extremfall töten. Heute versteht man darunter misogyne Typen, die sich diskriminiert fühlen, weil Frauen mit ihnen weder eine Beziehung noch Sex haben wollen. Nadia Seiler, Master-Studentin in Religionswissenschaften und Gender Studies, traute sich im Rahmen einer Seminar­arbeit in die dunklen Ecken des Internets, um mehr über die Wahrheit der Incels zu erfahren. «In den meisten Foren sind nur Männer erlaubt – oder jene, die sich als Männer ausgeben», hält sie fest. Für die radikale Entwicklung von der Support-Gruppe zur frauenhassenden Bewegung hat Seiler eine mögliche Erklärung: «Die feministischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte haben viele neue Möglichkeiten für Frauen entwickelt. Im Gegenzug ist für die Männer im selben Zeitraum nur wenig passiert, also z.B. vom Stereotyp des Ernährers oder von der Vorstellung, dominant und stark sein zu müssen, wegzukommen. Dadurch sind viele in dieser emanzipatorischen Entwicklung ‹zurückgeblieben› und fühlen sich nun von der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Gründe für die Entstehung der Incels sind jedoch komplex und noch nicht ausreichend erforscht.» Ohne diese patriarchalen Männlichkeitsvorstellungen, die suggerieren, dass Männer sexuell aktiv sind und viel Sex haben müssen, um einem Männlichkeitsideal gerecht zu werden, würde es Incels gar nicht geben.

Wurzeln in der Popkultur?

Als kurz vor der Corona-Pandemie «Joker» in die Kinos kam, wurde in den Online-Foren rege die Frage diskutiert, ob dieser von den Frauen abgewiesene Aussenseiter ein Incel sei. TV-Serien wie «Big Bang Theory» präsentieren uns zudem Geeks und Nerds, die nicht lockerlassen, obwohl Frauen zu Beginn kein Date wollen, und suggerieren, dass Männer nur lange genug insistieren müssen. Trägt die Popkultur zur Radikalisierung der Incel-Bewegung bei? «Durch die vermittelte Anspruchshaltung an Frauen wird das natürlich unterstützt», findet Seiler. «Dieser Wissensbestand reproduziert sich dadurch immer wieder in den Incel-Foren.» Eine besonders beliebte Plattform für den Austausch sei Reddit. Zwar wurde das bekannteste Incelforum mittlerweile verbannt, die grundlegende Frauenfeindlichkeit bleibt jedoch bestehen. Seiler verdeutlicht, welche Wahrheit in diesen Foren verbreitet wird: «Incels haben spannende Hierarchie-Vorstellungen: Sie sind überzeugt, dass wir in einem Matriarchat leben. Frauen hätten die Macht über die Partnerwahl und darüber auch die Macht in der Gesellschaft.» Dadurch, dass Frauen in den Hierarchie Vorstellungen der Incels nach oben daten würden und Männer nach unten, würden die unattraktivsten Männer immer leer ausgehen. Solche Hierarchien setzen Incels mehrheitlich anhand von genetischen Kriterien wie Körpergrösse oder Hautfarbe fest. «Die Wahrheit wird dabei so angepasst, wie sie gerade gebraucht wird. Einmal diskriminieren Frauen weisse Männer, weil sie ‹Schwarze mit grossen Penissen› bevorzugen, ein anderes Mal diskriminieren sie People of Color, weil sie angeblich Weisse bevorzugen», erzählt Seiler. Die Beobachtungen der Incels – so Seiler – seien aber nicht per se grundfalsch. Es gebe nun Mal Menschen, die öfter gesellschaftlich bevorzugt werden, weil sie den gängigen Schönheitsidealen entsprechen. In den Foren sei es verboten, über Beziehungen aus­serhalb von bezahltem Geschlechtsverkehr zu reden. Im Zentrum stehen immer nur die Misserfolge; es wird aktiv eine Wahrheit des Unglücks konstruiert.

 

© unicom | D. Wynistorf
Die schwarze Pille schlucken

Für diese bittere Wahrheit haben Incels ein bestimmtes Bild: die blackpill (dt. schwarze Pille), in Analogie zum Science-Fiction-Thriller «Matrix» aus dem Jahr 1999, während im antifeministischen Netzwerk Manosphere hauptsächlich das Bild der redpill (dt. rote Pille) genutzt wird. Im Film muss sich Hauptfigur Neo zwischen der roten und der blauen Pille entscheiden, die es zu schlucken gilt. Die rote Pille zu schlucken, bedeutet, mit der Realität der eigenen Existenz konfrontiert zu werden. Die blaue, zufrieden und ahnungslos in einer Welt weiterzuleben, die nicht die Wirklichkeit ist. Für Incels ist die Redpill die Erkenntnis, dass Frauen Männer unterdrücken und zumindest im Westen das Matriarchat vorherrscht. Die Blackpill ist um einiges pessimistischer. Die schonungslose Wahrheit, die so hart und schrecklich ist, dass niemand sie erfahren möchte: dass es unattraktive und benachteiligte Männer gibt, die niemals sexuellen oder romantischen Erfolg haben werden; die Incels. Auf jeden Fall sei die Situation für sie immer aussichtslos. Wurde die Blackpill endlich geschluckt, gibt es zwei Möglichkeiten: Resignation oder Gewalttätigkeit. «Es gab bereits zahlreiche Anschläge, die mit Incel-Ideologien in Verbindung gebracht werden.» Nicht jede brutale Aussage, die in den Foren geäussert wird, sei aber gleich als geplanter Angriff zu verstehen. «Oft geht es darum, sich in den Phantasien gegenseitig zu übertreffen.»

Haben Incels das Ziel, möglichst viele Männer in die brutale Realität einzuweihen? «Gerade sehr exponierte Akteure, die Bücher zum Thema schreiben, Veranstaltungen organisieren, die selbst vielleicht nicht Incels sind, aber zur breiteren Männersphäre gehören, haben sicher das Ziel, das Wissen zu verbreiten.» Die meisten Nutzer der Foren selbst suchen jedoch nach emotionalem Support, wobei auch Selbstmitleid eine grosse Rolle spielt. «Durch eine Insider-Sprache wird das Gefühl von Community noch verstärkt», ergänzt Sprachwissenschaftler Steve Oswald. Er stützt sich dabei auf die Forschung von Brooke Stanley, University of Wisconsin-Madison, und Michael Hoppmann, Northeastern University. «Ricecel ist z.B. ein abwertender Begriff für asiatische Incels.» Unerwünschte Aussenstehende würden teilweise gar nicht verstehen, worüber sich Incels unterhalten. «Über Sprache wird eine gewisse Exklusivität hergestellt», ergänzt er.

Gefährliche Algorithmen

Oswald und Seiler sind sich einig: Social Media tragen dazu bei, die Wahrheit der Incels zu verbreiten. «Problematisch ist dabei, dass – wurde einmal ein solcher Beitrag angeklickt – der Algorhythmus immer wieder ähnliche Contents vorschlägt. Schliesslich haben Plattformen ein Interesse daran, dass man sich möglichst lange darauf bewegt», findet Seiler.
Auf diese Weise würde man sich im eigenen misogynen Weltbild bestätigt fühlen. «Früher wurden solche Theorien in der Familie und im engeren Freundeskreis geteilt. Heute reicht ein Klick und die ganze Welt kann daran teilhaben», meint Oswald. Er interessiert sich in seiner Forschung für die Bedeutung von Aussagen und ob es reicht, ein Argument zu verstehen, um von einer Sache überzeugt zu werden. Und er kennt sich gut mit Verschwörungstheorien aus. Eine Verschwörungstheorie ist die Annahme, dass sich Menschen heimlich zusammentun mit dem Ziel, an die Macht zu kommen oder anderen zu schaden, also gegen die Interessen der Mehrheitsgesellschaft handeln. «Incels haben ein ganz klares Bild der Schuldigen, die für ihr Leid verantwortlich sind. Es gibt deshalb auch welche darunter, die an eine Verschwörung glauben», hält Oswald fest. Diese würden die sogenannte «sexuelle Revolution» als ein misslungenes soziales Experiment sehen, von welchem nur bestimmte Menschen profitieren. Aus der eigenen Forschung kann Oswald festhalten: «Je mehr eine Person an eine Verschwörungstheorie glaubt, desto unkritischer geht sie allgemein mit dieser Art von Argumenten um.» Es sei zudem sehr schwierig, eine Person von einer Sache zu überzeugen, die kaum mit den eigenen Ideologien und Werten übereinstimmt – ganz egal, wie logisch die Argumente sind. Das ist auch der Grund, warum mehrere, widersprüchliche «Wahrheiten» co-existieren können, darunter die dunkle Wahrheit der Incels.

 

Unsere Expertin Nadia Seiler ist Master-Studentin der Religionswissenschaften und Gender Studies.

nadia.seiler@unifr.ch

 

Unser Experte Steve Oswald ist Lektor, Lehr- und Forschungsrat am Departement für Englisch.

steve.oswald@unifr.ch