Dossier

Der Schutz der «Lebenslüge»

Miriam und Vladan sind glücklich verheiratet. Doch es gibt ein Geheimnis, das Miriam belastet: Klara, das jüngste der drei Kinder, stammt von Felix. Darf, kann und soll die Wahrheit ans Licht kommen?

Gut die Hälfte der Bevölkerung betrachtet einen Seitensprung auch heute noch als «unverzeihlich». Geht daraus ein Kind hervor, wird die Sache noch komplizierter. Wie viele Kinder Klaras Schicksal teilen, ist unklar. Zirkulierende Zahlen variieren zwischen weniger als einem und mehr als 30 Prozent. Die höchsten Ergebnisse stammen allerdings aus Untersuchungen, in denen sich Väter aus Eigeninitiative testen liessen. Wahrscheinlich schöpften viele unter ihnen bereits einen «Verdacht». Was heisst das konkret? In der Schweiz werden pro Jahr gut 85’000 Kinder geboren. Ein Prozent entspräche 850 Kindern. Bei einer Lebenserwartung von gut 80 Jahren dürften gut 68’000 minder- und volljährige Kinder Klaras Schicksal teilen. Hinzu kommen aber noch weitere Betroffene: Eltern wie Vladan, Felix oder Miriam, Klaras Geschwister und andere Nahestehende. Für viele Personen ist es sehr wichtig, «die Wahrheit» über ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu kennen. Was gilt also, wenn Klara, Vladan, Felix oder sogar Miriam «die Wahrheit» wissen wollen?

Gefängnis für Vaterschaftstests

Ohne behördliche Anordnung müssen alle, die bei einer Abklärung getestet werden, damit einverstanden sein. Für die unmündige Klara entscheiden die Eltern. Dabei darf Vladan seine genetische Verwandtschaft zu Klara nur abklären, wenn Miriam einverstanden ist. Tut er es trotzdem, drohen ihm bis zu drei Jahre Gefängnis. Der Bundesrat wollte mit dieser Strafe «heimliche» Vater­schaftstests verhindern. Väter hätten einen Interessenskonflikt. Bei Müttern sei dies anders: Man dürfe davon ausgehen, dass sie «die Interessen der Kinder richtig gewichten.» Zudem gebe es seit jeher solche Familien. «Die Menschheit kommt im Allgemeinen mit solchen Situationen recht gut zurecht.» Die Frau dürfe «mit einer Lebenslüge» leben. Die Zitate der Regierung stammen aus dem Jahr 2002. Im Jahre 2018 wurden die Regeln noch verschärft. Aber auch Miriam darf nicht eigenständig abklären, ob sie Klaras Mutter ist. Naturgemäss stellt sich diese Frage für Mütter jedoch selten. Miriam darf allerdings, ohne dass Klara und Vladan davon erfahren, «heimlich» abklären, ob Felix Klaras Vater ist. Sie braucht nur Felix’ Einverständnis.

Selektive Klagerechte

Das Abstammungsrecht regelt das «Kindsverhältnis». Mutter ist stets die Frau, die das Kind gebärt. Vater sollte grundsätzlich der «Erzeuger» sein. In den 1970er Jahren, als der Gesetzgeber die Frage regelte, gab es jedoch noch keine DNA-Tests. Man konnte den genetischen Vater nur vermuten. Vater ist demnach der Ehemann der Mutter, der Mann, der das Kind anerkennt oder derjenige, der wegen einer Vaterschaftsklage vom Gericht als solcher bestimmt wird. Die vermutete Vaterschaft des Ehemanns und des Anerkennenden lassen sich mit einer Klage ans Gericht beseitigen. Das Gericht klärt mit DNA-Tests. Allerdings dürfen nur wenige Personen klagen. Nur das erwachsene «Kind» oder der Ehemann selbst, dürfen dessen Vaterschaft beseitigen. Erst wenn Miriam und Vladan getrennt leben, kann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Bern (KESB) die unmündige Klara vertreten. Miriam und Felix haben kein Klagerecht. Die Mutter habe kein schutzwürdiges Interesse, hiess es seinerzeit. Dies mag stimmen, wenn sie Vladans Vaterschaft, nach Jahren des Schweigens, plötzlich beseitigen möchte. Anders verhält es sich jedoch, wenn Miriam möchte, dass Felix Klaras Vater ist. Dann sind sie darauf angewiesen, dass Vladan oder die KESB Vladans Vaterschaft freiwillig anfechtet. Bei nicht ehelichen Kindern ist dies anders. Alle mit einem Interesse dürfen die durch Anerkennung entstandene Vaterschaft anfechten. Sogar eine Gemeinde darf dies. Nur dem Anerkennenden selbst steht diese Möglichkeit lediglich unter restriktiven Bedingungen zu. Die Vaterschaft wird aufgehoben, wenn sich herausstellt, dass der rechtliche Vater nicht der Erzeuger des Kindes ist.

Überholte Weltanschauung

Vladan darf also seine Vaterschaft anfechten. Er darf vorher aber nicht wissen, ob er der Vater ist. Miriam darf wissen, wer der Vater ist, dessen Vaterschaft aber nicht beseitigen. Klara ist der Spielball von Eltern und Behörden und Felix hat sowieso nichts zu sagen. Wären Vladan und Miriam nicht verheiratet, könnte Felix Vladans Vaterschaft zwar anfechten und Klara anerkennen. Er könnte aber nicht vorgängig klären, ob er ihr Vater ist. Die Vaterschaftsklage steht nur Mutter und Kind zu.

 

© unicom | D. Wynistorf

Für Klara und Felix kann es noch schwieriger werden, sollte Vladan seine Vaterschaft erfolgreich anfechten. Klara verliert eine wichtige Bezugsperson, mit Felix verpasste sie die wichtigste Zeit für den Aufbau einer tiefgehenden Eltern-Kind-Bindung und Felix muss Vladan sämtliche Ausgaben für Klara zurückzahlen. Auch für Miriam ist die Sache unangenehm. Sie riskiert aber keine Kosten und muss Vladan nicht einmal verraten, wer der genetische Vater ist. Erwähnenswert sind zwei weitere Formalitäten. Ein Kind darf nur dann einen «rechtlichen Vater» haben, wenn es bereits eine rechtlich anerkannte Mutter hat. Zudem setzt die Vaterschaft durch Anerkennung grundsätzlich voraus, dass dem Zivilstandsamt gewisse Dokumente der Mutter und des Vaters vorliegen. Die Mutterschaft existiert hingegen auch dann, wenn diese Dokumente fehlen. Diese Regeln zeugen vom Weltbild, dass das Kind vor allem die Mutter braucht. Wirtschaftlich verantwortlich ist der Vater, grundsätzlich der Erzeuger. Vorbehalten bleiben der Schutz der Ehe und des gutgläubigen Ehemanns. Auch wenn das Parlament 2018 die «Lebenslüge» weiterhin schützte, führten die Debatten zur Kenntnis der Nach­kommen zu einer Überprüfung des Abstammungsrechts. Zwar glaubten damals noch einige Parlamentarier, dass Väter doch froh seien, wenn sie nichts wüssten. Das volljährige «Kind» darf jedoch seine Abstammung kennen und die Vaterschaft gegebenenfalls auch anfechten. Aus solchen und anderen Gründen verstosse die Rechtslage wahrscheinlich gegen die Grundrechte. Inzwischen liegen Ergebnisse der Überprüfung vor. Der Bundesrat und eine Expertengruppe, in der die Universität Freiburg gut vertreten war, empfehlen eine Revision. Sie präsentierten zahlreiche sinnvolle Vorschläge, die auch über das hier behandelte Thema hinausgehen, da sich die Gesellschaft verändert hat. Zu denken ist etwa an Regenbogenfamilien oder die private Samenspende. Dennoch gibt es Punkte, die überraschen. Die sogenannte «intentionale Elternschaft» dürfte in der Praxis darauf hinauslaufen, dass die Mutter den «zweiten Elternteil» auswählen darf. Der genetische Vater darf nur noch zweiter Elternteil sein, wenn das Kind noch keinen «sozialen» zweiten Elternteil hat. Bei Bedarf soll er sich seinen Pflichten aber nicht entziehen können. Am bedauerlichsten ist, dass das Kernproblem des heutigen Rechts bestehen bleibt. Väter sollen zwar «die Wahrheit» vor Gericht klären dürfen. Da die Mutter dies erfährt, werden Väter die Vaterschaft aber weiterhin erst abklären, wenn die Beziehung zur Mutter bereits zerbrochen ist. Ein junges Kind kann so, nebst der elterlichen Trennung, auch noch einen geliebten Elternteil verlieren. Je nach Alter wird es nicht verstehen können, wieso Papa plötzlich weg ist.

Frühe Klärung als Lösung

Solche Tragödien lassen sich vermeiden, wenn wir die Verwandtschaft frühzeitig klären. Möglich wäre, dass der Staat die Verwandtschaft, im Interesse des Kindes, von sich aus ermittelt und so zugleich dessen Anspruch auf Kenntnis seiner Abstammung sicherstellt. Alternativ könnten wir Mutter und Vater erlauben das Kindsverhältnis eben doch heimlich zu prüfen. Am besten innert kurz bemessener Frist. In anderen Ländern kommt die Menschheit auch mit dieser Lösung gut zurecht. Bis dahin haben Mütter mit einer glücklicheren Ausgangslage als Miriam die Möglichkeit, ihrem Partner und insbesondere ihren Kinder ein grosses Geschenk zu machen, indem sich von sich aus auf Ersteren zugehen. Dessen Gewissheit dürfte sein Engagement für die Familie, den Familienzusammenhalt und das gegenseitige Vertrauen zusätzlich stärken und sich somit auch für die Mutter auszahlen.

 

Unser Experte Martin Widrig ist Lektor am Lehrstuhl für Infrastrukturrecht und neue Technologien am Departement für Öffentliches Recht.

martin.widrig@unifr.ch