Dossier

Zwei ungleiche Geschwister

Rugby ist im 19. Jahrhundert aus dem Fussball heraus entstanden. Seitdem haben sich die beiden englischen Traditionssportarten allerdings stark auseinandergelebt.

Die Verzweiflung muss gross gewesen sein bei William Webb Ellis. Als sein Team 1823 in der englischen Kleinstadt Rugby ein Fussballspiel zu verlieren drohte, packte er den Ball kurz entschlossen mit den Händen und legte ihn dem Gegner ins Tor – der Rugby-Sport war geboren. So will es zumindest die Legende. Wie bei Legenden üblich, gibt es natürlich berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt. Aber weil es eine nette Geschichte ist, die sich kein PR-Profi besser hätte ausdenken können, heisst der WM-Pokal auch heute noch Webb Ellis Cup.

Englische Wurzeln

«Rugby gilt mittlerweile als Vorzeigesport in Sachen Fairness und Respekt. Deshalb finde ich es umso amüsanter, dass unser Gründungsmythos darauf beruht, dass ein Typ während eines Fussballspiels komplett durchgedreht ist», sagt Federico Lubian. Er ist Studienkoordinator an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg und kennt beide Sportarten bestens. Früher spielte er Fussball, eine Zeit lang sogar als Profi in der vierthöchsten Liga Italiens, seit sechs Jahren gehört er nun aber dem Rugby-Club Fribourg an. «Es sind immer noch beides Mannschafts- und Kontaktsportarten, aber abgesehen davon haben sie sich in entgegengesetzte Richtungen entwickelt.»

Unabhängig davon, was an der Legende um William Webb Ellis dran ist, steht fest: Fussball und Rugby in ihrer modernen Form haben ihre Wurzeln beide in England. «Ähnliche Mannschaftssportarten gab es an verschiedenen Orten der Welt allerdings schon zuvor», sagt Gwenaël Jacob. Bevor er vor drei Jahren im Alter von 40 Jahren selbst anfing Rugby zu spielen, war der Doktorassistent am Departement für Biologie der Universität Freiburg bereits als Fan dem Rugby-Sport verbunden. Entsprechend interessiert sich der Franzose auch für die Geschichte des Sports. «In Nordfrankreich zum Beispiel wurde schon im Mittelalter ‹La Soule› praktiziert, ein Sport, in dem es darum ging, einen Ball mit Händen und Füssen ins Nachbardorf zu bringen. Das waren richtige Schlachten, alle Mittel waren recht, Regeln gab es kaum.»

Des einen Freud, des anderen Leid

Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte auch in England unter dem Überbegriff football mehrheitlich noch Anarchie. Je nach Ort variierten die Regeln und Spielvarianten beträchtlich, meist wurde nicht nur mit den Füssen gespielt, sondern eben auch mit den Händen. Weil der Sport an den Schulen und in der Bevölkerung immer beliebter wurde, stieg das Bedürfnis nach einheitlichen Regeln. Als Mutterland des Fussballs gilt England in erster Linie deshalb, weil 1863 die neu gegründete Football Association das erste verbindliche Regelwerk des modernen Fussballs herausgab. Damit machte sich der englische Verband jedoch nicht nur Freunde. Unter anderem untersagte er das so genannte Hacking, also Tritte gegen das Schienbein. Als Jahre später auch noch das Handspiel verboten wurde, war das Zerwürfnis nicht mehr zu verhindern. Clubs, die mehr der Rugby-Variante zugewandt waren, spalteten sich ab, 1871 gründeten sie die Rugby Football Union – Rugby war von nun an eine eigenständige Sportart.

In den darauffolgenden Jahrzehnten entstand auch der Begriff Soccer. Weil dieser heute vor allem in den USA verwendet wird, um American Football und Fussball voneinander zu unterscheiden, gilt Soccer fälschlicherweise mitunter als amerikanische Schöpfung. In Wirklichkeit ist es eine Abwandlung von Association Football, die englische Studenten bei Wortspielereien kreierten. Es ging darum, Association Football (soccer) von Rugby Football (rugger) zu unterscheiden. Heute werden die Begriffe in England nur noch selten verwendet.

«Nach der Abspaltung standen die beiden Sportarten in Konkurrenz zueinander», sagt Jacob. «Nimmt man nur die Popularität als Massstab, hat Fussball das Duell natürlich für sich entschieden.» Während Fussball fast überall auf der Welt enorm beliebt ist, beschränkt sich die Popularität von Rugby mit einigen Ausnahmen – etwa im rugbyverrückten Frankreich – auf die Commonwealth-Staaten. Beispiele für Länder, in die das British Empire das Spiel erfolgreich exportiert hat, sind der aktuelle Weltmeister Südafrika oder Neuseeland, dessen Nationalteam den Haka, einen rituellen Tanz der Maori, weltberühmt gemacht hat.

Auch im Mutterland England selber ist Rugby immer noch sehr beliebt. Wie in Wales und Schottland, die eigene, ebenfalls viel beachtete Nationalteams stellen, ist Rugby die Teamsportart Nummer zwei. Im Südwesten Londons steht seit 1909 das Twickenham Stadium, das in erster Linie für Rugby-Länderspiele benutzt wird und trotz seiner enormen Kapazität von 82’000 Zuschauern regelmässig ausverkauft ist. Trotzdem ist Fussball sowohl bei den lizenzierten Spielern als auch in Sachen Zuschauer und TV-Einschaltquoten die klare Nummer eins. Genaue Zahlen, wie viele Menschen eine Sportart ausüben, sind schwierig zu eruieren und zu verifizieren. Entsprechend variieren sie je nach Statistik, weil nicht immer auf dieselbe Weise gezählt wird. Nimmt man die Zahlen der Verbände, die wohl beide ähnlich grosszügig zählen, spielen in England rund elf Millionen Männer und Frauen Fussball, gut zwei Millionen spielen Rugby. Weltweit ist die Differenz mit 265 Millionen gegenüber knapp zehn Millionen noch viel deutlicher.

Für Gwenaël Jacob besteht das Erfolgsrezept des Fussballs in seiner Einfachheit. «Auf fast jedem Untergrund und ohne grosse Vorkenntnisse kannst du draufloskicken. Im Rugby hingegen besteht der Grundsatz des Spiels darin vorwärtszukommen, indem man den Ball rückwärts passt – das ist nicht für alle auf Anhieb natürlich.» Kommt hinzu, dass es innerhalb des Rugby verschiedene Strömungen gibt. Schon im 19. Jahrhundert wurde in England darüber gestritten, ob es professionelle Spieler geben darf. Mit Rugby Union und Rugby League entstanden zwei verschiedene Varianten, die bis heute Bestand haben. Bei der ersten stehen 15 Spieler auf dem Feld, bei der zweiten nur 13. Rugby League ist vor allem in Nordengland populär und gilt dort als Sport der Arbeiterklasse. Das ist kein Zufall, sondern historisch bedingt: Die Abspaltung erfolgte 1895, weil es sich die Arbeiter aus den Industriestädten im Norden nicht leisten konnten, Rugby bloss als Hobby zu betreiben. Deshalb waren sie früh auf professionelle Strukturen und finanzielle Entschädigungen angewiesen. Im Süden von England frönten vor allem die Kinder aus privilegierten Familien dem Rugby. Diese hatten keine finanziellen Gründe, auf den Amateur-Status zu verzichten. Dort ist deshalb heute noch die ursprüngliche Variante Rugby Union populär. In England konnte diese Variante den Ruf, der Sport der Elite zu sein, nie ganz abstreifen, obwohl sie sowohl auf dem Feld als auch auf den Zuschauerrängen deutlich heterogener geworden ist. Rugby Union gilt weiterhin als posh, Werte wie Disziplin und Fairness als edel, weshalb das Spiel auch an Eliteschulen seit jeher oft und gerne praktiziert wird. Auch Prinz Harry bezeichnet Rugby als seinen Lieblingssport und war in seiner Studienzeit selber aktiv.

 

© Martin Parr, KEYSTONE SDA
Rugby am Punkten

Gwenaël Jacob kann gut damit leben, dass Fussball und nicht Rugby von England aus den Siegeszug rund um die Welt angetreten hat: «Wenn man gewisse Auswüchse im Fussball sieht, ist es vielleicht besser so.» Federico Lubian hingegen liebt Fussball eigentlich. «Ein Ball, vielleicht noch ein Trikot, ein paar Schuhe – und los gehts!» Die horrenden Geldsummen und die damit verbundenen Probleme im professionellen Bereich des Fussball hätten ihn allerdings zum Rugby getrieben. «Wenn es nur noch darum geht, die Zuschauer als deine Kunden zufriedenzustellen, dann machst du Entertainment, nicht Sport.» Fussball galt in England lange als Sportart der Arbeiterklasse. Eine Einordnung, die allerdings nicht mehr zeitgemäss ist. Die besten Clubs machen Milliardenumsätze, die Ticketpreise in der Premier League sind exorbitant hoch.

Spätestens seitdem seit 1995 auch beim Rugby Union professionelle Strukturen erlaubt sind, ist im Rugby ebenfalls mehr Geld im Spiel. Die Topstars verdienen eineinhalb Millionen Franken pro Jahr. Das ist zwar ein Bruchteil von dem, was die besten Fussballer verdienen, die Tendenz ist aber ebenfalls steigend. Lubian glaubt trotzdem nicht, dass dem Rugby-Sport dieselben Probleme drohen, wie dem Fussball. «Rugby holt dich immer wieder zurück auf den Boden. Noch viel mehr als im Fussball kannst du alleine gar nichts ausrichten, egal wie stark du bist. Da sind immer 15 Gegner, die dich umhauen können, automatisch suchst du deshalb Unterstützung bei deinen Mitspielern – das lehrt dich Demut.»

Bestens veranschaulicht wird dies durch das soge­nannte Gedränge, der Standardsituation nach kleinen Regel­verstössen. Acht Spieler pro Team bilden ein Knäuel und versuchen, gemeinsam den Gegner wegzudrücken, um sich den eingeworfenen Ball zu ergattern. Jeder Schritt muss koordiniert sein, ein Ich gibt es in diesem Moment nicht, es existiert nur ein Wir. Wie verpönt Individualismus im Rugby ist, zeigt allein schon die Tatsache, dass ausgelassener Jubel nach einem gelungenen Versuch mitunter kritisch beäugt wird. Es verwundert deshalb nicht, dass Rugby in England an elitären Schulen und Universitäten nicht nur wegen der Wertevermittlung beliebt ist, sondern auch um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken und Netzwerke aufzubauen.

Of hooligans and gentlemen

Rugby präsentiert sich gerne als ehrenhaftes Gegenstück zu seinem grossen Bruder, etwa bei Schwalben oder im Umgang mit dem Schiedsrichter. Das Vortäuschen eines Fouls oder übermässiges Reklamieren kann schon mal eine mehrmonatige Sperre nach sich ziehen. Ein Bonmot besagt, im Rugby komme der Referee gleich nach Gott. Dass sich eine Traube reklamierender Spieler um den Schiedsrichter bildet – im Fussball an der Tagesordnung – ist im Rugby undenkbar. Entscheide werden fast ausnahmslos ohne zu murren akzeptiert. Oft und gerne wird passend dazu ein alter Spruch zitiert, der Arthur Tedder, einem ehemaligen Kanzler der Cambridge University, zugeordnet wird: «Football is a game for gentlemen played by hooligans, and rugby union is a game for hooligans played by gentlemen.» Federico Lubian glaubt jedoch nicht, dass Rugbyspieler schlicht anständigere Menschen sind als Fussballer. «Der Schiedsrichter hat im Rugby ganz einfach viel mehr Macht. Er kann direkt Einfluss auf das Resultat nehmen und beispielsweise nach Fouls dem Gegner Punkte zuschreiben.» Als ehemaliger Fussballer und erst noch Italiener habe er zu Beginn viel zu oft den Mund aufgemacht, sagt Lubian augenzwinkernd. «Das wurde mir dann schnell abgewöhnt – auch durch meine Mitspieler.»

Auffallend ist im Rugby nicht nur der Respekt vor dem Schiedsrichter, sondern auch vor dem Gegenspieler. Lubian zufolge hat das unter anderem damit zu tun, dass Rugby mit seinen vielen heftigen Zweikämpfen ein sehr harter Sport ist. Das klingt nur im ersten Moment nach einem Widerspruch. «Von Beginn weg wird dir eine Sicherheitskultur vermittelt. Ich vergleiche das mit Kampfsportarten wie Karate oder Judo. Es geht darum, die Energie richtig zu kanalisieren und einen Kodex einzuhalten, um letztlich dich und die anderen möglichst vor groben Verletzungen zu schützen.» Der Respekt, der auf dem Feld vorgelebt wird, gilt als einer der Hauptgründe dafür, dass die Auftritte der englischen Rugby-Nationalmannschaft – anders als beim Fussball – kaum von Fangewalt begleitet werden.

Rugby-Boom in der Schweiz

Fussball und Rugby sind zwei Geschwister, die sich über die Jahre auseinandergelebt haben. «Es gibt Rugby-Spieler, die verächtlich in Richtung der Fussballer blicken und sagen: Wir betreiben eine richtige Sportart, die nicht», erklärt Lubian. Und was sagen Fussballer umgekehrt über Rugby-Spieler? «Nichts, sie wissen gar nicht, dass dieser Sport existiert», sagt Jacob und lacht. Es ist ein Witz, doch die Aussage enthält ein Fünkchen Wahrheit – vor allem in der Schweiz. 283’000 Lizenzierte weist der Schweizer Fussballverband aus, im Rugby sind es knapp 6000. Zwar wurden bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts erste Rugby-Spiele in der Schweiz dokumentiert, insbesondere in der Genfersee-Region. Auf dem Feld standen damals allerdings fast ausschliesslich britische Expats.

So richtig etablieren konnten die damals in der Schweiz lebenden Briten Rugby jedoch nicht. Sie blieben lange mehrheitlich unter sich. Der Fussballverband wurde 1895 gegründet, der Rugbyverband erst 1972. «Ein Blick auf die letzten sechs Jahre aber zeigt: Die Schweiz ist weltweit wohl das Land, das in Sachen Rugby die grösste Entwicklung verzeichnet», sagt Lubian. Tatsächlich hat sich die Anzahl Lizenzierte in dieser Zeit verdoppelt. In der Weltrangliste belegt die Schweizer Männernationalmannschaft Rang 28. «Nicht schlecht für ein Land mit acht Millionen Einwohnern. Deutschland zum Beispiel ist nur auf Rang 30 klassiert», so Lubian. Auf Briten treffe man im Schweizer Rugby allerdings auch heute noch. «In einem Trainerkurs hatte ich mal einen Engländer als Ausbildner. Sobald dieser nach der Theorie sein Tenue überzog, wurde er vom höflich-vornehmen Briten zum Rambo und rammte alles um, das sich ihm in den Weg stellte.»

 

Unser Experte Gwenäel Jacob ist Doktorassistent am Departement für Biologie. Von Kindesbeinen an verfolgte der Franzose den Rugby-Sport intensiv als Zuschauer, vor drei Jahren gab er dann als Vierzigjähriger sein Debüt als Spieler und ist seither für den Rugby Club Fribourg aktiv.
gwenael.jacob@unifr.ch

Unser Experte Federico Lubian ist Studienkoordinator an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Der Italiener ist ein ausgezeichneter Fussballer, spielte in seiner Heimat zwischenzeitlich sogar als Profi. Vor sechs Jahren wandte er sich jedoch vom Fussballsport ab und ist seither leiden­schaftlicher Rugby-Spieler.

federico.lubian@unifr.ch